Full text: St. Ingberter Anzeiger

AUnterhaltungsblatt 
uann 
St. Ingberter Anzeiger. 
Xr. 26. Dienstag, den 28. Februau 
1871. 
LCord Eyle. 
Nach dem amerikanischen Originale des 
Charles T. Manners. 
Frei bearbeitet von Lina Freifrau v. Berlevsch. 
(Ombs.) 
zu weihen, sie vor Hunger und Kum mer zu 
schützen, und keinen Schritt zu eigener Legi⸗ 
timation zu thun, bvor ihm das gelungen. 
Die Aufgabe war härter als er glaubte, aber 
sie war auch für ihn segensreich, und jeden⸗ 
falls ist es viel werth, zu wissen, was man 
ohne alle äußere Hilfsmittel erreichen könne. 
Und so geschah es, daß exr erst jetzt zurück⸗ 
lam.“ .4 
O mein Bruder — o bringen Sie mixr 
meinen Bruder!“ 2 
Der Fremde nahm die abgetragene Muͤhe 
ab und zeigte kurz gelocktes goldbraunes Haar, 
löste langsam die Binde vom Gesicht und sprach 
eifrig mit sich selbbsht. 
Soll ich, der ich um so viel betroͤgen 
wurde, auch auf diesen Ersatz verzichten * 
Der Knoten ist verschlungen: die Kombtie 
maq fortgehen·“· 
Endlich war die Binde abgelegt, der 
Rockkragen zurückgeschlagen, und ein edles 
hübsches Autliß mit blauen Augen wandte sich 
ihr zu. 
Kit ty Cartright keirachtete ihn mit dem 
Derzen im Auge — sie strecte die Hand 
aus — 
GFortsetzung.) 
„O mein Bruder, mein armer, lieber 
Bruder !“ klagte Kitty schluchzend. 
„Die hochherzigen Mönche nahmen den 
Kranken auf, pflegten ihn treulich durch ein 
Monate und aber Monate lang dauerndes Ge⸗ 
hirnfieber, theilten mit ihm ihr karges Stücklein 
Brod und behielten ihn noch, als selbst ihnen 
der Hungertod drohte. Der Prior des Klosters 
starb und hinterließ ihnen Segen oder Fluch, 
je nachdem sie an dem hilflosen Fremden han⸗ 
delten. Als der Kranke sich erholte —“ 
.Der Kranke, — mein Bruder ?“ 
‚Ja, der Kranke ihr Bruder.“ 
„So sagen Sie Hugo, dann weiß ich von 
wem Sie sprechen.“ 
„Als Hugo sich erholte, war er so schwach, 
daß er die Verhaltnisse nicht gleich faßte. Er 
war überhaupt nie sehr klug —“ 
„Entschuldigen Sie, er war ungemein geist« 
reich, daß wird Niemand bestreiten. der ihn 
kannte.“ 
„Nun, wenigstens zu der Zeit war er 
kaum fähig die Finger zu rühren und konnte 
fich nicht mit Denken abgeben. Ais er aber 
nach und nach begriff, daß er so zu sagen 
aus Grabes Nacht erstanden, machte er das 
heilige Gelübde im Kloster zu bleiben, bis 
Bater Leons Segen sich erfülle, alle Gedanken 
und Jaͤhigleiten dem Wohl der armen Moͤnæ 
„Ea ist — nein, es ist nicht — und doch 
muß es Hugo sein!“ 
Welch zärtlicher Pathos in dem Toue dieser 
Worte! 
„Mein theures, geliebtes süßes Schwe⸗ 
—V 
Und sie hielten sich innig umschlungen, 
ihr Haupt ruhte an seiner Schulter, ihre 
Thraͤnen vermischten sich. 
O Hogo, Hugo, wie kin ich glüdlich! 
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