Full text: St. Ingberter Anzeiger

Unterhaltungsbhlatt 
umnn 
St. Ingberter Anzeiger. 
— 
Honnerstag, den 16. März 
4 
Das blaue Zimmer. 
Eine geheimnißvolle Geschichte, erzählt von 
— — 
IàXààà R äæäσX 
Es mag ijetzt ungefähr ein Jahrzehnt her 
—X 
sund ein Herr Namens Emmerling. Er war 
dor undentlichen Zeiten von Rügen herüber⸗ 
gekommen, zuun.d Niemand wußte zu sagen, 
welche dürgerliche Stellung er eigentlich ein⸗ 
nahm. Da die Stralsunder indeß nicht leben 
Unnen ine ren Mitmenschen einen anstän⸗ 
digen Tiser geben, so nannten sie den Hel⸗ 
den unserer Geschichte, Herr Commerzienrath.“ 
Ich selbst hobe ihn Hundert Mal gesehen, 
wenn er in seinem grauen, kaftanartigen Ue— 
berzieher ne der Ressource ging. — Jeder⸗ 
mann kannet a, Jedermann grüßte ihn, aber 
in weitlänen Gespräche ließ sich Hert 
Emmerling nicht ein. Die überwiegende Ma— 
jorität betractete ihn als einen Sonderling 
und da es a Stralsund von derartigen Käuzen 
wimmelt, so machte man weiter dein Aukhebens 
davon. 
Der Herr TCommer;ienrath bewohnte ein 
altes Giebelhaus in der Semmlerstraße. Er 
war“ seit zwanzig Jatren Wittwer. Kinder 
hatte er nicht. Ein Bedienter, eine Haushäl ⸗ 
lerin und ein Hühnerhund, das waren außer 
ihm die einzigen lebenden Wesen, die das 
geräumige, wohl möblirte Logis bewohnten. 
4* —* 
2) Aus dem sehr empfehlensmerthen Journale: 
„Das nere Blatt“ (A. H. Vayne, Leipzigh. 
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Der Bediente hieß Franz, die Haushällerin 
Beate und der Hühnerhund Klaprood. 
Herr Emmerling hielt sich gewöhnlich in 
den Zimmern des Erdgeschosses auf. Eine 
Treppe hoch befand sich das Revler der alten 
Beate, die Slube Franzen's und das sogenannte 
Blaue Zimmer, das zu Lebzeiten der seligen 
Frau Tommerzienräthin als Salon gedient 
hatte, seitdem jedoch nicht mehr betreten wurde. 
Die üdrigen Räume des Hauses bis unters 
Dach waren' als Kornböden vermiethet, wie 
dies in den pommerschen Städten seit Jahr⸗ 
hauderten Sitte ist. 
Der Herr Commerzienraih var, wie XE 
ein stiller schweigsamer Mann von streug ge⸗ 
regelter Lebensweise. Wenn er um halb Neun 
aufgestanden war, las er zwei Stundeun die 
Siralsunder Zeitung.“ Dann machte er einen 
Spaziergang nach dem sogenannten Bruunen. 
einer kleinen Gartenanlage vor dem Kuieper⸗ 
Thore. Wenn er um halb Eins nach Hause 
kam, ging er jedes Mal seine ganze Vuohnung 
ab, Lm ssich zu überzeugen ob Alles in der 
gehdrigen Ordnung sei. Er hatte in dieser 
Beziehung ganz eigene Grundfätze. der alte 
Herr. „Selbst ist der Mann.“ pflegte er zu 
fagen. „und wenn man seinen Leuten nicht 
nuf die Finger feht, so kommt einem das 
Unglück aber Nacht auf den Hals.“ Bei 
dieser Rundreise besuchte er auch den donst so 
derwaisten Salon, und nickie dann zufrieden, 
wenn er wahrnahm, duß Beate sorgfältig den 
Staub von den Msbeln gew'ischt und das 
Zimmer schmuck und sauber gehalten hatte. 
Eines schönen Tages kehrte nun unser 
Herr Commerzienralh wieder von feinem ge⸗ 
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