Full text: St. Ingberter Anzeiger

Alnterhaltungsblatt 
— E 
St. Ingberter Anzeiger. 
Xr. 7. 
Sonntag, den 15. Januar 
183124. 
CTord Lyle. 
Nach dem amerikanischen Originale des 
Charles T. Manners. 
Frei bearbeitet von Lina Freifrau v. Berlepsch. 
(Ombs.) 
Mortsetung /·.. 
„Ach, da ist ein Brief von Cuthbert,“ 
rief Tante Barbara freudig. „Gott segne den 
Jungen, er vergißt mich bei all seiner Wild⸗ 
heit nicht. Und hier ist auch eine Epistel für 
Dich, Kitty, das ist ja wundernett. 
Nachdem alle Briefe an ihre Adressen ge⸗ 
langt waren, seßzie sich die geschäftige Dame 
und griff zunächst nach dem Schreiben aus 
Genf. N 
Kitly hatte sich in eine Fensternische zurück⸗ 
gezogen und riß hastig das unge vöhnlich große 
Couvert auf. Ein zusammengefaltetes Papier 
fiel zunächst heraus, es war eine Anweisung 
auf tausend Pfund. Entzüdt schlug Kitto die 
Hände zusammen. — 
„O du liebenswürdigster aller Brüder,“ 
rief sie in seliger Freude, ohne an ihre Um— 
gebung zu denken, „nun wird Mütterchen 
bald gesunden. Wie kann er aber so viel 
geben dwo in aller Welt hat er es her J Kinds⸗ 
kopf, der ich bin, als ob das nicht Alles im 
Briefe stäunde.“ 
Im nächsten Augenblick schrie sie schmerzlich 
auf, ließ das verhängnißvolle Blatt fallen, 
sank mit verhülltem Antlitz auf die Knie und 
schluchzte und weinte, als ob das Herz ihr 
brechen wolle. F 
„Armes, armes Kind, wie kann ich Dich 
trösten?“ fllüsterte Tante Barbara näher tre⸗ 
tend, „bin ich doch selbst um so schmerzlicher 
berührt, als ich all meine Hoffnung bezüglich 
Cuthbert's Besserung auf Deines Bruders 
Einfluß setzte. Es ist sehr, sehr traurig und 
Cuthbert ist auch ganz trostlos darüber.“ 
Schluchzend schmiegte sich Kitty an die 
treue Brust. 
ODO wie soll ich der Mutter die furcht- 
bare Kunde bringen? Hugo war ibhr Stolz 
ihre Freude. Wie war ich glückkich, als ich die 
Anwe sung sah und was nützt nins jetzt ulles 
Geld der Welt ohne Hugo ? 
„Was ist geschehen 70 fragie Geuevbra theil⸗ 
nehmend. — 
„Er ist todt — mein Bruder ist todt,“ 
entgegnete Kitty händeringend, „Gott erbarme 
sich mein! Mutter wird nun auch sterben und 
was soll dann aus mir werden? Ist's nicht 
bitterer Hohn, daß das lang ersehnte Geld 
jetzt kommt:“ 
So sprach sie wirr und unzusammenhän⸗ 
gend, daß Miß Lloyd fragend auf Tante 
Barbara blickte. 
Ihr Bruder war Lord Cuthberts Secre⸗ 
tair,“ erklärte diese, ‚„und die Briefe hringen 
seine Todeskunde. Er verunglückte im Genfer⸗ 
see. Cuthbert selbst hat die Schweiz sofort 
berlassen und begibt sich, um den Verlust zu 
verschmerzen, nach Asien. Inzwischen empfi hlt 
er mir die Sorge für die Familie seines Sece 
retairs, der auch sein vertrauter Freund war. 
Um sie vor Mangel zu schützen, hat er Mrs. 
Cartright den Gehalt des Sohnes als Pension 
ausgesetzt uund tausend Piund sofort gegeben, 
Sie sehen, er hat ein warmes, großes Herz.“ 
Genevra faßte schmeichelnd Kitty's Hand.