Full text: St. Ingberter Anzeiger

Bölling nur um acht Tage früher gekommen, 
dann hätte er gerne auf ein Geschäft verzich⸗ 
tet, um dem Freunde zu helfen. 
Bölling glaubte nicht an die Aufrichtigkeit 
dieser Entschuldigung. Kannte er auch diese 
zeschmeidige, gesuchte Höflichkeit, dieses Ueber⸗ 
maß von Bedauern noch nicht aus Erfahrung, 
er fühlte doch, daß jenes Bedauern nicht aus 
dem Herzen kam, Den schlagendsten Beweis 
dafür gab ihm die Eile, welche Schmerling 
plötllich an den Tag legte, die kalte Einladung 
zum Mittauessen, in der jedes Wort verrieth. 
daß auf eine ablehnende Antwort gehofft 
wurde. 
Bölling kehrte niedergeschlagen in den 
Gasthof zurück. Die Noth ist erfinderisch, sie 
glaubt aus jedem Strohhalme einen Baum 
voll Blüthen und Früchte schaffen zu können. 
— Bölling entsann sich des Fallimeuts seines 
Schwiegervaters, seiner Unterredung mit dem 
Agenten und dem jetzigen Inhaber des Bank⸗ 
geschäfts. Vielleicht gelang es ihm, durch Ver—⸗ 
mitilung des Assessors von denm ehemaligen 
Buchhalter des Commerzientalhs einen Theil 
der erschwindelten Summe zurückzuerhalten. 
Er begab sich unverzüglich auf den Weg zur 
Wohnung des Assessors. Waldau hatte dieselbe 
bereits verlassen, er befand sich in der Gerichts⸗ 
tzung, und seine Hauswirthin glaubte, daß 
er vor Abend nicht zurückkehren werde. Für 
den Verzweifelten ist jedes schwache Reis eine 
Stütze, an die er so lange glaubt, bis sie 
unter ihm zusammenbricht. 
Bölling beschloß zu warten. Ob er einen 
Tag früher oder später zurückkehrte, was 
machte es ihm aus, er kam immer noch früh 
genug, der Armuth die Thüre zu seinem häus- 
lichen Heerde zu öffnen. Zudem wollte er ja 
auch hier den Untergangsact anfertigen lassen, 
er mußte also ohnehin seine Rückreise auf den 
aächsten Tag verschieben, da es heute schon 
zu spät war, den Notar aufzusuchen. Gegen 
Abend ging Bölling wieder in die Wohnung 
des Assessors, er war noch nicht zurückgekehrt. 
Er ersuchte die Hauswirthin, ihm den Juristen 
zuzuschicken, gab ihr die Adresse des Gastho— 
fes und ging dann wieder in diesen zurück. 
Als er in den Speisesaal trat, siel sein 
erster Blick auf seinen Schwitigervater und den 
Baron von Westen, welche während seiner 
Abwesenheit eingetroffen waren. Er blieb auf 
der Schwelle des Saales stehen. Was wollten 
die beiden hier? Hatte der Baron den Com⸗ 
nerzienrath in die Sachlage eingeweiht? Oder 
var er gekommen, um bei der Uebertragung 
des Gutes zugegen zu sein? 
Der Commerzienrath erhob sich und nä— 
herte sich seinem Schwiegersohn. 
„Was will jener Mensch hier ?“ war die 
erste Frage Böllings. „Setzt er in mich so 
zeringes Vertrauen, daß er glaubt, ich wäre 
nur abgereist, um geinen Verpflichtungen ge— 
gen ihn mich zu entziehen ?* 
„Ich weiß es nicht,“ flüsterte der Com— 
nerzienrath, dem von jenen Verpflichtungen 
ioch nichts ahnte und deshalb den Sinn der 
Worte Bölling's ebensowenig verstand, wie 
er sich das verstörte Wesen desselben erklären 
onnte. „Der Baron ersuchte mich, ihn hier⸗ 
jer zu begleiten, es liege in Deinem und 
neinem Juteresse, und ich kam seiner Bitte, 
venn auch ungern, nach.“ 
Georg war ruhig sitzen geblieben. Er 
hatte beim Eintritt des Gutsbesitzers nur 
düchtig aufgeschaut und dann Schreibmateria- 
lien gefordert. Er schrieb, während die Beiden 
an der Thür des Saales miteinander 
sprachen. 
Als Bölling und dessen Schwiegervater sich 
dem Tische näherten, hatte Georg zwei Briefe 
zesiegelt und adressirt; der erste trug die 
Adresse: „Herrn Helmes, Chef des Haufes 
Weber und Comp.“ Er übergab die veiden 
Briefe dem Oberkellner, trug ihm auf, die⸗ 
elben schleunig besorgen zu lassen und winkte, 
nuchdem er mit dem Besitzer des Gasthofes 
leise einige Worte gewechselt und von diesem 
einen Schlüfsel erhalten hatte, den Beiden. 
ihm zu folgen. 
Mechanisch gehorchten sie. Sie vermutheten, 
daß der Baron ihnen ein Geheimniß mitthei— 
len wolle, ohne sich darüber Rechenschaft ab⸗ 
legen zu koͤnnen, welcher Art dieses sein 
werde. 
Georg führte seine Begleiter in ein Zim⸗ 
mer des ersten Stockes, welches, nach der 
eleganten Einrichtung zu schließen, der Salon 
für die vornehmsten Gäste war. Es stand durch 
eine Flügelthüre mit einem kleinen Kabinet in