Full text: St. Ingberter Anzeiger

Anterhaltungsblatt 
zum 
St. Ingberter Anzeiger. 
— 70. Donnerstag, den 15. Juni 
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Die Brüder. 
Original⸗Novelle von Ewald August König. 
mir all die Entsagungen und Entbehrungen, 
denen du dich meinetwegen unterwerfen muß— 
test. Höre mich an und auch ihr beide 
hört zu.“ 
Barbara nahm zögernd auf dem Siuhle 
neben dem alten Herrn Platz, und als dieser 
ihre Hand ergriff, entzog sie ihm dieselbe 
nicht. 
Der Commerzienrath erzählte jetzt die Ge— 
schichte seiner ersten Liebe, er schilderte die 
Mutter Barbara's mit beredten, glühenden 
Worten, in denen sich auch jetzt noch eine un⸗ 
jägliche Liebe zu der Hingeschiedenen spiegelte. 
Er schilderte in eingehender Weise den bittern 
Kampf in seiner Seele, als er der, welche 
allein ihn glücklich machen konnte, entsagen 
mußte. Nachdem die Gaͤttin gestorben war 
und er nun mit seinem Kinde wieder allein 
in der Welt stand, da hatte er weder Geld 
noch Mühe gespart, um den Aufenthaltsort 
seiner Geliebten zu erforschen, aber vergebens, 
sie war verschollen, keine Nachforschung führte 
zu einer Spur, welche einen Anhaltspunkt ge— 
boten hätte. Wie jubelte sein Herz, als ihm 
Georg jenes Billet vorhielt und plötzlich einen 
Lichtstrahl in die dunkle Nacht fallen ließ, 
welche die Verschollene umhüllte. Wohl schmerzte 
ihn die Nachricht, daß die Geliebte schon 
längst unter dem Rasen ruhe, aber sie habe 
eine Tochter hinterlassen und diese Tochter 
war auch sein Kind. Auf sie wollte er jetzt 
die Liebe übertragen, welche bei der Erinner⸗ 
ung an die Geliebte in seinem Herzen neu 
erwacht war. 
Barbara schüttelte das Köpfchen, als der 
Commerzienrath schwieg, für die Freude und 
(Fortsetzung.) 
Sprachlos vor Erstaunen blickten die jungen 
Leute dem alten Herrn in's Antlitz. Seine 
Augen hingen unverwandt an dem Mädchen, 
und doch konnte dieses sich nicht entschließen, 
in die ausgebreiteten Arme zu eilen. 
„Er hatte Recht — zu fspät!“ murmelte 
der Bankier wehmüthig, indem er die Arme 
sinken ließ, „das Herz der liebenden Braut 
hat keinen Raum mehr für den Vater.“ 
„Wenn Sie wirklich mein Vater sind,“ 
hob Barbara nach einer Pause schüchtern an, 
„dann werden Sie mir auch beistehen, den 
wiederzusinden, der mein Glück, mein Leben, 
mein Alles ist, ohne den ich —“ 
„Du zweifelst daran ?“ fiel der Commer⸗ 
zienrath ihr ins Wort. „Spricht denn in 
deinem Herzen nichts für mich ? Hat dir deine 
Mutter nie erzählt von dem Manne, den sie 
mehr als ihr Leben liebte? Doch ich vergaß, 
sie starb ja kurz nach deiner Geburt, der 
Gram hat ihr das Herz gebrochen.“ 
Sinnend starrte der alte Mann vor sich 
hin, die Erinnerung an jene Zeit mußte seine 
Seele mächtig ergreifen. Wohl bemerkie Bar⸗ 
bara, wie schmerzlich ihm jene Erinnerung 
war, wohl las sie in seinen Zügen, wie sehr 
er litt, aber der eigene Gram überwog den 
fremden, all ihr Denken, ihr ganzes Sein weilte 
nur bei dem Geliebten. 
„Nenne mich Vater,“ hob der Bankier 
nach einer Weile wieder an, „und vergieb