Unterhaltungsblatt
St. Ingberter Anzeiger.
Mr. 73. Donucastag, den 22. Juni
II.
Ein dunkles Geheimniß.*)
Novelle von
Ewald August König.
er auf dem Arme trug, mit einer graziösen
Bewegung über die Schulter und trat in sein
Kabinet, um einen Blick in das Fremdenbuch
zu werfen.
Er hat mich, bevor er zu Bett ging, be—⸗
auftragt, ihm die Stiefeln vor fünf Uhr zu
hringen, sagte der Hausknecht, um so auffal⸗
lender ist es daß — „Ich finde darin nichts
Auffallendes,“ unterbrach ihn der Wirth.
„Man faßt oft am Abend einen Entschluß,
den man am nächsten Morgenwieder fallen läßt.“
Die Herren Baron von Reden und Frei⸗—
herr von Braß kamen gestern Abend mit der
etzten Post um acht Uhr an, meldete der zu⸗
rückkehrende Oberkellner. Der Herr Baron
logirt in Nummer Siebenzehn, der Freiherr
in Nummer Sechszehn. „Baron von Reden?“
viederholte der Wirth. „Sagte man nicht vor
einigen Wochen, die Comtesse von Strahlen
sei mit einem Baron von Reden verlobt? —
„Ganz recht, ich erinnere mich dessen, der
alte Verwalter der Strahlen'schen Güter hat
das Gerücht ausgesprengt, bervor er nach
Amerika auswanderte. Na, Peter, zum Ueber—
fluß könntest Du einmal anklopfen, wenn der
Herr Baron die Störung übel nimmt, mußt
Du seinen Zorn über Dich ergehen lassen.
Hat der Freiherr sein Zimmer schon ver⸗
assen ?
Er frühstückte um fünf Uhr, und ging
dann aus, erwiderte der Oberkellner, — Ich
nüßte sehr irren, wenn die beiden Herren nicht
einen Ehrenhandel hätten, den sie hier aus⸗
fechten wollen, Ffuhr er, nachdem der Haus-
necht sich entfernt hatte, mit gedämpfter
Stimme fort. Sie sprachen gestern Abend kein
Erstes Kapitel.
Der Herr in Nummer Siebenzehn hat
das Frühstück noch immer nicht verlangt, auch
stehen seine Stiefel noch vor der Thür, sagte
der Hausknecht im Gasthofe „zur Sonne“ mit
bedenklichem Kopfschütteln. Der große, corpu⸗
lente Wirth, der an der Thür seines Gast⸗
hofes stand und mit behaglicher Ruhe dem
buntbewegten Leben und Treiben auf dem
Marktplatze zuschaute, zuckte mit kaltem Gleich⸗
muth die Achseln und meinte: „Kümm're Dich
nicht darum, Peter, noble Herren, noble Pas⸗
sionen, der Herr in Nummer Siebenzehn wird
gewohnt sein, unserm Herrgott ein Loch in
den Tag zu schlafen.“
Aber es ist bereits 11 Uhr und man
bernimmt nicht das geringste Geräusch in dem
Zimmer, fuhr der Hausknecht fort. Möglich,
daß der Herr gewohnt ist, so lange zu schla—
fen, möglich aber auch, daß ihm irgend etwas
zugestoßen ist, oder daß er — „zSich aus
dem Staube çemacht hat!“ fiel der Wirth
ihm gelassen in's Wort. „Eines Nachtlagers
wegen läßt man seine Stiefeln nicht im Stich.
Friedrich, sehen Sie einmal nach, wer in
Nummer Siebenzehn logirt; so viel ich mich
errinnere, ist der Herr gestern Abend ange—
kommen.“
Der Oberkellner legte die Serviette, die
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Verfasser nicht erlaubt.