Unterhaltungsblatt
St. Ingberter Anzeiger.
M
Nv. 9. Donnerstag, den 19. Januar
18775.
Lord Eyle.
Nach dem amerikanischen Originale des
Charles T. Manners.
Frei bearbeitet von Lina Freifrau v. Berlepsch.
(Ombs.)
Fortsetzung.)
Es dunkelte bereits, als man Hector vor⸗
führte, und Lord Cuthbert mit dem ersten
Schein der alten Lebhaftigkeit. wie Luke sich
ausdrückte, die Stufen hinabsprang.
Lord Cuthbert reitet nicht mehr so
gut wie früher,“ bemerkte der Stallmeister,
aber zwei Jahre ohne Uebung machen natürlich
oel aus.“
Der junge Gutsherr ritt inzwischen die
Allee entlang und hinaus auf die offene Land⸗
straße. Als er sich endlich allein und unbewacht
fühlte, senfzte er tief und reckte die Hand in
die Höhe. Die Selbstbeherrschung eines ganzen
Tages, die eiserne Willenskraft, die Bewachung
jeder Muskel, jeder Stimmung schien in der
einfachen Geberde sich zu entladen. Wie ein
Gefangener sehnend das helle warme Sonnen⸗
licht einsaugt. schlürfte er gierig des Abends
Aaühle und Dunkelheit.
Nach kurzer Ueberlegung flüsterte er: „Fort
Hector, Du sollst mich noch über eine Meile
weit tragen.“
Die Meile endete in einem friedlichen
Dörfchen, wo unter einer großen Ulme das
Wirthshausschild zum gdnen Bären im Mond⸗
licht glänzte, Lord Cuthberts Auge aber
vandte sich weiter nach rechts, nach einem
hübschen Häuschen, das wie versteckt hinter
iner Tannengruppe ruhte.
Waoar es eine Thräne, was in Lord Cuih
berts Auge funkelte? F
Er ritt in den Hof des Gasthauses, über—
gab sein Pferd der Sorge des Hausknechtes
uud eilte die Straße hinabß.
Angelangt bei dem niedlichen Häuschen
hrat er jedoch nicht ein, sondern schwang sich
leicht über das Eisengitier des Bärtchens und
haschte über die Gartenbeete nach der andereu
Seite der bescheidenen Wohnung. Hinier einer
Gaisblattlaube blieb er stehen und verschlang
mit gierigem Blicke das sich ihm durch die
erleuchteten Feuster bietende Bild.
Er sah ein einfaches, behagliches Zimmer;
häugelampen, Blumenkörbchen, hübsche Bilder
und niedliche Bücherständer schmückten das
zierliche Heim. All das aber beachtete Lord
Cuthbert nur insoferne, als es ihn überzrugte.
daß in diesem Hause lein Mangel heirsche.
Die kleine Gruppe am Opaltijche aber fesselte
seine ganze Aufmerksamkeit.
In einem Fauteuil saß eine in schwarze
Seide gekleidete Frau und strickte. Sie hatte
des Lebens Sonnenhöge bereis überschritten,
ihre Züge aber waren still und fried lich wie
die eines Kindes geblieben. Als sic sich erhob
und vom nächsten Tische ein Arbeits!örbchen
holte, preßte der ungesehene Beobachter ent zückt
die Hand auf das lautpochende Herz und
lüsterte jubelud: „Sie geht — sie kann wirtk⸗
sich wieder gehen! Soll ich jetzt noch zweifeln
uind zagen?“ Wie eingewurzeit hingen seine
Augen an der ehrwürdigen Gestalt. Die breite
Brust arbeitete heftig, die bebende Hand er⸗
jaßte immer fester das schwache Gitterwerk der
kaube. Alle Leidenschaft, alle Kraft seines