Full text: St. Ingberter Anzeiger

nicht ausdrüden kann, hier im Herzen steht 
es angeschrieben.“ — 
„Nur nicht sentimental,“ unterbrach der 
Advokat den jungen Mann, indem er ihn 
am Arme faßte und mit sich in den Saal 
zog, wo Mathilde ungeduldig auf die Rückkehr 
ihres Gatten harrte. 
Eine Thräne glänzte in dem Auge des 
Juristen, als er dem Wagen nachschaute, in 
welchem die beiden, die durch ihn glücklich 
geworden waren, davon fuhren, eine Thräne 
reiner uneigennütziger Freude! Wie manchen 
Kummer und Aerger wogen sie auf! Der 
Advotat fühlte sich in einer Stimmung, in 
der er seinem unversöhnlichsten Feinde die 
Hand hätte bieten kznnen. Und doch mußte 
er dieser Stimmung Gewalt anthun, um mit 
eiserner Stirn dem Rentner gegenüber treten 
zu können. 
Krämer schreckte der Eintritt des Advo⸗ 
katen aus düsterem Brüten auf. „Was wollen 
Sie noch hier?“ rief er mit heiserer Stimme. 
„Sie haben mir mein Kind gestohlen, mein 
einziges, gelicbtez Kind, was verlangen 
Sie mehr?“ 
„Viel, sehr viel,“ erwiderte der Juris 
gelaffen, indem er sich in einen Sessel setzte, 
„Die erste Bedingung haben Sie erfüllt, 
lommen wir jetzt zur zweiten.“ 
„Und diese lautet ?“ fragte Krämer sar⸗ 
kastisch, „Geld und dieder Geld, he, habe 
ich's getroffen ? Sie denken, nachdem der 
Bettler nun einmal mein Schwiegersohn ist, 
müsse ich ihm auch die gefüllte Börse in die 
Hand geben, damit er auf seinen Lorbeern 
ruhen kann! Aber keinen rothen Heller werde 
jch herausgeben.“ 
„Ich zwinge Sie dazu,“ unterbrach ihn 
der Jurist ruhig. 
„Durch welche Mittel, wenn ich fragen 
darf ?“ 
„Durch ein gewisses Dokument, welches 
ich vor einigen Tagen bei einem hiesigen Bank⸗ 
hause deponirte.“ 
Der Rentner fuhr, wie von einer Taran⸗ 
tel gestochen, in die Höhe, seine Knie wank⸗ 
ten, erd'ahle Blässe überzog sein Antlitz. 
SG8o sind Sie also auch der Sachwalter 
meines Neffen?“ fragte er, nachdem er seine 
Fassung wiedergefunden hatte. „Dieser Meffe 
ist am Ende mein Schwiegersohn.“ 
„Errathen, der Sohn des Gemordeten 
dat die Tochter des Mörders geheirathet, 
finden Sie das nicht hochtragisch? Würde 
es Sie nicht freuen, wenn die Zeitungen 
diese Thatsache in alle Länder posaunen? 
Fühlen Sie, welches Damokles-Schwert über 
dem Haupte Ihres Kindes hängt?“ 
Der Rentner trocknete die nasse Stirn ab. 
„Sie find ein Teufel in Menschengestalt!“ 
löhnte er. 
„Nennen Sie mich die verkörperte Nemesis, 
der Name paßt besser, aber ich binJeine 
harmherzige Nemesis, Sie selbst müssen dies 
jugeben; während ich Sie verfolge, lasse ich 
Ihnen stets noch eine Thür offen, durch 
velche Sie mir entschlüpfen können. Sobald 
das Gericht meine Rolle übernimmt, wird 
diese Thür geschlossen und erst dann wieder 
geöffnet, wenn — doch so weit sind wir 
noch nicht und Sie können dem Himmel 
danken, daß Sie noch die Maqt besitzen, es 
nicht so weit kommen zu lassen. 
„Knüpft sich an diese zweite Bedingung 
nicht noch eine dritte?“ fragte der Rentner 
sarkastisch. 
„Allerdings, doch darüber reden wir 
später.“ 
„Und wie lautet diese zweite Bedingung!“ 
„Deß Sie das Vermögen Ihres Bruders 
im Betrage von sechs und dreißigtausend Tha⸗ 
ern morgen bei der Bank deponiren!“ 
„Und wenn ich mich weigere? Wer will 
mich zwingen?“ 
„Ich! Ist das Geld nicht morgen in 
der Banklasse, so werden Sie morgen Nach⸗ 
mittag verhaftel, eine andere Alternative bleibt 
Ihnen nicht.“ 
Krämer erhob sich. „Ihre Forderuugen 
sind ziemlich bescheiden, worin besteht die 
dritie Bedingung 7?* 
„Darin, daß Sie entweder innerhalb vier 
Wochen auf der See sind, oder dem Ver—⸗ 
brecher die Mittel zur Flucht verschaffen, bevor 
dieser die Geduld verliert.“ 
„Also hätte ich durch die Erfüllung der 
ersten und zweiten Bedingung so zu sagen 
nichts gewonnen 7 
„Zeit,“ erwiderte der Jurist achsel⸗