Full text: St. Ingberter Anzeiger

„Noch eins, lieber Steinhöfer, ich würde 
Eginhard auf einige Jahre nach England zur 
prattischen Ausbildung senden. Kennt er Hart- 
uths Adresse wirtlich nicht, dann sind sie 
getrennt.“ 
„Er wird sich dagegen sträuben,“ meinte 
der Commerzienrath nachdenklich. 
„Pah, gebrauchen Sie einfach Ihre na⸗ 
rürliche Äutorität dem unmündigen Knaben 
gegenüber. — Ich bin überzeugt, er kommt als 
vollendeter Gentleman zurück.“ 
Nun wohl, ich sehe ein, es muß sein, 
um ihn gründlich zu heilen.“ sprach Stern- 
höfer nach einer kleinen Pause enischlossen, 
so sei eß denn, Testament und Reise als 
Schutzdämme gegen die drohende Sturmfluth 
seiner phantastischen Träume. Ich handle da— 
mit nur für sein Bestes, er wird mirs spüter 
danken. Im Uebrigen verlasse ich mich auf 
Sie sür die Vernichtung des Romanstoffes, 
auf daß ich einmal wieder ruhig, ohne Ge— 
spensterfurcht schlafen kann.“ 
Uubesorgt, mein Lieber; ich verfehle so 
leicht nicht mein Ziel; Sie können schon jetzt 
ruhig schlafen, wir haben es ja überall nur 
mil Menschen zu thun.“ 
Er ging, — der Commerzientath aber 
konnte trotz aller Schutzdämme die Ruhe nicht 
finden, — es gibt Gespenster der Vergangen⸗ 
heit und Zukunft, welche sich so leicht nicht 
beseitigen lassen. 
Rach acht Tagen hatte der Notar Alles 
erreicht, was er sich vorgesteckt. Die Papiere 
des Selbstmörders waren in seinen Händen 
das Testament verfertigt und Eginhard bereits 
auf der Reise nach England. 
Letzterer war wider Erwarten und bereit— 
willig auf des Vaters Wunsch eingegangen. — 
Großvater und Vater ahnten es nicht, daß 
Frau Brandt sich bereits im Besitze seiner neuen 
Adresse befand. 
Und die Papiere? — Der schlaue Notar 
halle ganz richtig vorausgefetzt, daß der In⸗ 
jpektor wie alle Sterblichen seine Archillesferse 
vesihen müsse, diese Ferse war seine Vorliebe 
für Couponschneiden. 
ger Rotuͤr knickerte nicht mit dem Gebot, 
und der gute Juspeltor erbat sich acht Tage 
Pedentzeit. Nach dieser Frist lieferte er den 
zefährlichen Romanstoff aus und erhielt die 
vedungenen Silberlinge. 
Ais er die Summe zwischen den ver— 
schwiegenen Wänden seines Zimmers nach- 
zählte, lächelte er spöttisch in sich hinein und 
—XEVD 
als ein durchtriebener, Advokat, wir haben 
anser amtliches Gewissen bewahrt.“ 
Der schlaue Notar war insofern überlisftet, 
us der Inspektor eine getreue Copie aller 
Schriften besaß. Wofür hätte man sonst auch 
Copirmaschinen? 
Ob der Commerzienrath jetzt ruhig schla⸗ 
fen konte? Wir bezweifeln es... 
Draußen vor dem Agiedienthore wohnte 
»ine alte Frau in einem Hause, worauf eine 
ingesühnte Blutschuld ruhte. Sie wollte noch 
miner nicht zum zweiten Male sterben, die 
alte Großmutter, als ob der Tod sich vor 
ihr fürchte oder sie ganz vergessen habe. 
Der reiche Commerzienrath floh dieses 
Haus, — es war ihm, als hielte ein bluti⸗ 
ger Schatten Wache vor demselben, während 
die Mutter drinnen im Sarge lag. — 
Wollten denn immer neue Gespenster auf⸗ 
erstehen ? — Seiue Nerven schienen in der 
That schwächer zu werden, war er doch nie⸗ 
mals so reizbar gewesen als jetzt, seitdem 
Eginhard fort war, obgleich seine Fabriken 
einen immer größeren Aufschwung nahmen 
und der reiche Mann sein Vermögen bald 
zu verdoppeln versprach. J 
Mebdrerr Jahre waren vergangen, der 
Sohn schrieb nur selten, er wünschte noch 
mmer in England, wo es ihm zu gefallen 
schien, zu bleiben. 
Der Vater sehnle sich krampfhaft nach 
ihm, auf ihn hatte er doch Alles, was sich 
an Liebe in seinem Herzen barg, gehäuft. 
Die Genüsse des Lebens widerten ihn 
an, — er war in wenig Jahren alt gewor⸗ 
den, ein Greis im Innern und Aeußern. 
Den Schwiegervater haßte und fürchtete 
er; warum hatte dieser Mann die Pläne 
seiner Kindheit so entsetzlich durchgeführt ?* 
Es liegt etwas Seltsames im menschlichen 
Charakter, das selbstsüchtige Bestreben. für 
alles Böse, was wir im Grunde als Ausfluß 
des eigenen Willens anzusehen haben, Andere 
derantwortlich zu machen.