Full text: St. Ingberter Anzeiger

Unlerhaltungsblatt 
St. Ingberter Anzeiger. 
— 151. J VDonnerstag, den 21. Dezember — 1871. 
Auf dem Throne.“* 
Historische Novelle von 
NRobert Franz. 
(GFortsetzungJ. 
IX. 
Die Vermählungsfeierlichleiien in Paris 
hatten endlich ihr Ende erreicht, aber noch 
mmer folgte Fest auf Fest, noch immer waren 
die Pariser nicht aus dem Taumel des Ent⸗ 
zückens gerissen, in welchen sie die Ankunft 
rziner neuen, an Jugend und Schönheit Alles 
übertreffenden Königin versetzt hatte. 
Man sang das Lob der holden Mary 
auf allen Straßen, in allen Häusern, man 
stand Tage lang vor dem Palaste, um nur 
einen Blick in ihr reizendes, jungfräliches 
Antlitz zu werfen. 
Auch der König war von dem Reiz und 
der Armuth seiner Gemahlin entzückt, und 
der Gedanke, daß Gicht und Alter ihn so an 
das Belit fesselten, daß er nicht Hand noch 
Fuß rühren konnte, brachten ihn oft an die 
Grenzen des Wahnsinns. 
Trotz der glühenden Eifersucht, die seine 
Seele zerfleischte, konnte er doch nicht umhin, 
die junge Königin mit allen Freuden des Le⸗ 
bens zu umgeben, die sie hier in Paris ge⸗ 
nießen konnte, und war entzückt, weun sie ihm 
freiwillig ein Stündchen opferte, um den 
armen, kranken Mann zu unterhalten, den sie 
gezwungen ihren Gatten nennen mußte. Nie 
hatte Ludvwig XII. Schwachheit und Alter 
so sehr verwünscht, als in dieser Zeit, wo ihm 
der verkörperte Liebreiz und die Anmuth seiner 
Gemahumn recht lebhaft vor Augen führte, wie 
es um ihn bestellt war, und die bedauerns⸗ 
werthen Aerzte, die ein krankes, elendes Le⸗ 
ben nicht wieder verjüngen und kräftigen 
fonnten, betraten zitternd vor Augst das 
strankenzimmer, um stets neue Vorwürfe über 
hre Ungeschicklichkeit zu empfangen. 
Soviel man in England das Glück der 
Prinzessin Mary gepriesen, so sehr bedauerte 
nan am französischen Hofe die arme, junge 
Zönigin, die von ihrem eigenen frommen 
Sinn angetrieben, die Pflichten einer Gattin 
ttreng erfüllte, und sich durch alle Verführungs⸗ 
ünste der Welt nicht bewegen ließ, nur einen 
Finger hreit von dem Wege der Tugend, den 
sie sich vorgeschlagen, abzuweichen. 
Alle Liebenswürdigkeiten der französischen 
Cavaliere, ihre Unterhaltungsgabe fruchteten 
bei der Königin nichts, sie zog sich nur noch 
nehr zurück und vergeblich oft das edle, 
ilterliche Benehmen des Herzogs von Suffolk, 
zer noch durch kein Wort wieder die Gefühle 
eines Innern verrathen, mit dem diefer leicht⸗ 
innigen Franzosen, und allmählich fühlte sie 
eine leise Sehnsucht, ihm Alles zu vergeben, 
und wieder die Versicherung seiner hoffnungs⸗ 
osen Liebe zu empfangen. 
Es war ein Trost für die junge Königin, 
daß ihr königlicher Gemahl fortwährend an 
das Krankenlager gefesselt war, denn obgleich 
lie einiges Mitleid mit dem armen, schwachen 
Manne fühlte und ihm gern manche Stunde 
pferte, war es doch für sie ein peinigendes 
Befühl, mit ihm, als ihrem Gemahl der Wel 
bor die Augen zu treten.