Full text: St. Ingberter Anzeiger

Delene, saß mit einer weiblichen Arbeit 
keschäftigt, dor dem Epheuhause. Auf dem 
Tische ftanden noch die Ueberrefte emes fru⸗ 
galen Abendbrotes, tach; dessen Besihß der 
tleine, allerlienste Wachtelhund schmachtete und 
endlich seine Herrin vorsichtig mit der ausge⸗ 
rectten Pfote am Arme berührte, um ihr seine 
Wünsche erkenuen zu geben. Sie schob ihm 
den Teller, mit den übriggebliebenen Speise— 
resten zu.3. 
Sie wollte in ihrer Arbeit fortfahren, 
allein so sehr sie sich auh zwang, es wollie 
ihr heute nicht gelingen. Den' träumerischen 
und heute etwas umschleierten Blick in die 
Ferne gerichtet, sah fie dem prachtvollen Schau⸗ 
jpiele des Sonnenuntergaugs zu, der ihr fast 
noch nie so schn vorgelommen war, als ge⸗ 
rade heute. 
Ueber den ganzen Himmel war rine tiefe 
Purpurgluth gegossen, die sich zusebendẽ ver⸗ 
breitete und die einzelnen Bergspfhen und 
Burgen in der Ferne im hellen Abendschein 
eiglünzen ließ. Die dankele Bergwand, in 
dlauen Nebel gehüllt, bildete, um die Scenerie 
vollständig zu machen, die Staffage zu dem 
Bilde, das sich von dem Platze aus, auf 
dem Helene verweilte, dem beschauenden Auge 
bot. Dazu tönten auf einmal einzelne Glocken⸗ 
geläute aus den nahen Dörfern mit ihren 
taufendfditigen Echos in den Bergen zu Helene 
herüber, daß es ihr mie ein heiliger Schauer 
überlam und sie unwilldührlich die Hande 
jallen mußte, bis sich das aufgerollte Gemälde 
wieder verwandelte·. 
Das Abendgeläute hatte aufgehört, ebenso 
sendete das Abendroth seine leßten Töne in 
die Wolken, bis auch dies aufhörie. Es wurde 
immer ruhiger und stiller um sie her; eine 
gew sse Feierlichkeit, ein tiefer Ernst hatte 
sich über ihre ganze Umgebung gebreitet, was 
ss recht innig mit ihrem Innern harmo⸗ 
nirte. — 
Wexnn es so recht siill um uns her ge⸗ 
worden ist,“ daun fühlen wir es deutlich, wie 
nach und nach alle Gidanken und Eupfin⸗ 
dunzen, die im Wirbellaufe des Tages zer⸗ 
streut umher geschwebt sind, in die Menschen⸗ 
brust zurückehren und dort allmählich, geister⸗ 
haft, wie auf sant⸗en Filtichen wieder ein⸗ 
hren und sich uni den einen, den wichtigsten 
und bestimmendsten Puakt des menschlichen 
Lebenez, die Liebe, concentriten. 
*Helene hatte am Tage viel gedacht. In 
leichten Nebelgebilden zogen die Bilder ihrer 
Jugend und ihrer Jugendträume an ihrem 
Jeistigen Auge vorüber, bis sie au dem einen 
Bilde haften blieben, das ihr garzes Sein 
erfüllte, wenn es sich vor ihr aufrollte. Bruno 
und immer wieder Bruno war es, er, der in 
jeiner Liebe zu ihr sein Leben geopfert, Es 
reihten sich wieder andere Bilder an; ihre 
Benefuxg in M....5; die Anträge Hos⸗ 
mann's, der ihr, nachden sie Brunn wieder 
gesehen, ihn gesprochhen und sie gerettet, in 
dem Innerften ihrer Seele zuwider war; der 
Tod der alten Anne; die Reisen durch die 
xerschiedensten Gegenden Teutschlands; ihre 
Aukunft in der hiesigen Gegend; der Ge⸗ 
salln an dem Epheuhause und der daraus 
entstandene Kauf desselben; ihr Wirken, ihr 
deben auf der Stätte des Erdbodens, auf der 
je he Leben in stiller Zurückgezogenheit zu 
verbringen gedachte. 
Ganz in diese Bilder der Vergangenheit 
versunken, hatte sie die herbeitretende, alte 
Wirthschafterin überhört, die in stets ge— 
chaͤftiger Eile die neuen Zeitungen aus der 
Stadt brachte. 5 
„Fräulein — die Zeitungen!“ sagte diese 
ju der noch immer in Gedanken Dasitzenden, 
indem fie zu gleicher Zeit die Schulter He⸗ 
leuens leicht berührtte.... 
Erschreckt fuhr Helene zusammen, strich 
mit der feinen, weißen Hand über die Stirne, 
hinter deren Wand soeben die bunten und 
vielgestaltigen Bilder dahingegangener Zeiten 
voxubergezogen waren. 
Mit einem freundlichen Lächeln dankend, 
nahm sie schweigend der Alten die Zeitungen 
ab uund durchblätterte sie. Plötzlich blteb ihr 
Auge mit besonderer Spannung auf „einer 
Stelle haften. Sie überlas dieselbe noch einmal; 
sie hatte sich nicht getäuscht — es war Wirk⸗ 
lichkeit. 
Die Hand mit dem Zeitungsblatt sank in 
ihren Schooß. Ihr bewegtes Junere qab sich 
auch äußerlich kund — ein tiefer Seufzer 
entwand fich ihrer Baust. Die Stelle mußte 
von ganz besonderer Wichtigkeit sein, denn 
helene nahm das Zeitungsblatt noch ein mal