„Sie glauben also nicht, daß ich Ihnen
bezüglich des Briefes die Wahrheii sagte?“
„Im Gegentheil, ich glaube es sogar mit
Vergnügen, aber daran dachte ich nicht.“
„An was dann?“
Einen Augenblick zögerte sie, dann fuhr
sie erröthend, aber mit fester Stimme fort:
„Ich habe de traurige Geschichte von Mrs.
Browun erfahren, habe mit ihr darüber ge⸗
weint und die arme Marie zu txösten
dersucht.“ W
Erstaunt und fragend blickle der junge
Fdelmann auf sie. War solch vollendete Heu⸗
chelei möglich ? konnte er so ruhig und un⸗
befangen Vtariens Namen hören, wenn er
wirklich ehrlos an ihr gehaudeltzẽ
„Mis. Brown's Geschichtg? in wie fern
berührt sie mich? F
Was konnte, was sollke Genebra antwor⸗
ten J Sie war wirklich froh, als Tante Bar⸗
bara die Allee entlang kam.
Cuthbert — Genevra — wo seid Ihr
denn 1 Habt Ihr schon von Kitty's Glück
gehbrt ?
Nein, bitte, erzählen Sie uns,“ rief Ge⸗
nevra lebhaft.
IIch sage Euch, 's ist ganz romantisch.
Her Bote tam unmittelbar nach unser em
Weggang. Mrs. Cartright ist voll Freude nund
doch auch voll Sehnen nach dem geliebten
verlorenen Sohn. Für Kitty, aber ist das
Ereigni die beste Arzuei, sie weint und lacht
und ihre Augen Fenteln wie Sterne..
Hier endete des alten Fräuleins Redseliq⸗
keit, der Athem war ihr ausgegangen. Cuthbert
sührte sie zur Banktk.
„Aber Sie haben uns ja noq gar nicht
gesagt, was es eigentlich ist,“ rief Genevra
jachend, „habe ich Sie doch Tag meines Le⸗
bens nicht so aufgeregt gesehen
Run, eine Erbschaft, eine wirlliche Erb⸗
schaft. Weiß nicht mehr genau, wie viele
Tausend, aber genug, um Kitthy zur Erbin
und Mrs. Cartright zu einer wichtigen Per⸗
sönlichleit zu machen. Ist das nicht glorios ?“
„Bitte, erllüren Sie sich näher,“ sprach
Cuthbert leiser.
„Ein Adam Cartright, ein Stahlwaaren⸗
fabritant in Wales, ein Vetter von Kilty's
Vater starb kürzlich ohne directe Erben und
vermachte sein ganzes Vermögen dem Sohne
des Jacob Cartright, und falls dieser nicht
mehr am Leben sein sollte, zu gleichen Theilen
der Wittwe und Tochter des genannten Vet⸗
sers, der ihm in seiner Jugend irgendwelchen
Dienst geleistet habe. Sonderbarer Weise
vußten weder Kitty noch deren Mutter von
der Existenz dieses Mannes, aber die Erbschaft
ist da und wartet nur auf Acception. Kommt
nun, Kinder, und gratulirt.“
Und Miß Barbara erhob sich geschäftig
und trippelte in freudiger Erregung fort.
Zögernd folgte Genevra und bemerkte noch,
wie Cuihbert Lyle schmerzlich die Hände gen
hdimmel hob und mit ersticter Stimme rief:
So ist denn Alles, Alls umsonst, der letzte
Trost mir genommen! Barmherzigzer Himmel,
die Strafe ist hart.“
Genevra war überzeugt, daß sie recht ge⸗
hört habe und sand doch keinen Sinn, keme
Erklärung der wilden Worte.
Als sie endlich in ihrem Zimmer allein
war, überdachte sie die Ereignisse dis Abends
und kam zu dem Schlusse, daß irgend ein
düsteres Geheimniß über Lord Cuthbert schwebe.
Die Aufregung ihrer Gedankenwelt verscheuchte
jede Ruhe und als die Schloßuhr die Mitters
nachtsstunde verkündete, huschte sie im losen
Nachtgewande durch die Hollen nach Kitty's
Gemach, zu sehen, wie sie sich befinde.
Das schwache Licht einer gedämpflen
Flamme erhellte die weiten Gänge nur un⸗
bollkommen, und erst als sie an die Thür des
strankenzimmers gelangte, bemerkte sie die
hohe Gestalt, die mit verschräntten Armen
an der Wand lehnte.
„Lord Cuthbert!“
Ihre Freundiu schläft seit einer halber
Stunde.“
„Danke, warum aber begeben Sie sich
nicht zur Ruhe nach all der Aufregung des
Tages ?*
„Ich kann nicht schlafen und dachte meine
Nähe dürfte wünschenswerth sein, wenn die
Schmerzen allenfalls überhand nähmeun.“
Während er sprach, entfernte er sich von
stit:y's Thüre und näherte sich dem Portale.
Mechanisch folgte Genepyra und blickte durch
die hohen Scheiben auf die dunkeln Umrisse
der Gebüsch, den sternenbesäeten Himmel.