Full text: St. Ingberter Anzeiger

Ea war, als wolle sie die Hand nach ihm 
ausstrecken, in ihren Zügen lag wildes Sehnen, 
pages Zweifeln, unnennbare Zärulichleit. — 
„Nein, nein,“ wiederholte sie feierlich, 
beinahe vorwürfsvoll, „nichts auf der Welt 
wird mir den Sohn ersetzen.“ 
Der junge Edelmann erbleichte, die Lippen 
debien, 8 webe ein wildes Wort auf ihnen, 
dann fuhr er mit der Hand über die Augen, 
derbeugte sih hastig und eilte forr. 
Als er den Salon wieder betrat, erzählte 
BSraf Lubin eine eben brieflich erfahrene 
Neuigleit. 
„Ist das nicht die sonderbarste Geschichte 
bon der Welt ? Oberst Higginson erhielt 
kürzlich einen Brief aus Genf, der ihm unter 
anderm mittheilte, daß dort ein Engländer, 
den man seit Jahr und Tag für jodt hielt, 
vieder anfgetaucht sei. Vor ungefähr zwei 
Jahren sei er aus einem Boote gestürzt und 
de sinnungslos an's Ufer geschwemmt worden. 
Auf irgend welche Weise gekangte er in ein 
aites Kloster, wo er, weiß Gott wie lange, 
im Delirium lag. Jetzt in er vom Gehirnfie⸗ 
ber genesen, dem Leben zurückgekommen, findet 
Alles höchst sonderbdar⸗ And; erklärt den Leu⸗ 
den nicht die Hälfte der Räthsel? Man sagt, 
er jei Sekretair eines britischen Edelmannes 
gewesen, was der Sache natürlich in London 
Interesse betleiht. Denken Sie sich aber ein⸗ 
nal das sondervare Gefühl, in eine Welt zu 
kommen, wo Jedermann einen für todt 
—— W 
Der Graf schwieg, denn eine plötzliche 
Uufregung hatte die ganze Gefellschaft er— 
griffen. 
Trog' des geschwollenen Fußes sprang 
XX 
— 
Mrs. Cartright wartodtenbleich, aber 
nicht bleicher, als der junge Gebieter von 
dyle Hall. Bewegungslos wie eine Statue, 
wie mit Einem Schlage versteinert, stand er 
auf der Schwelle. Ein Antlitz spiegelte des 
anderen wildes Entsetzen, verzweifelnden Schre⸗ 
den wieder. 
Kitty bemerlte es nicht, schluchzend vor 
Freude viederholte sie: „Gott sei Dank, es 
si Hugo, unser lieber, lieber Huao!“ 
cvII.. 
kyle Hall beherbergte seine Gäfte noch 
ꝛine Woche länger, aber es war nicht mehr 
zer alte frohe Kreis. Ein düsterer Scha, ten 
chwebte über Allen und erstickte jedwede 
Freude. Nur zwei Ausnahmen mochten allen⸗ 
'alls angenommen werden: Miß Barbara in 
)eren frohem Wesen es nicht; lag, längere 
Zeit krüße oder schwermüthig zu sein, und 
Braf Lubin, dessen Aeußeres die Existenz jedes 
ilebels zu verneinen schien. 
Der Herr des Hauses benahm sich ernst 
ind ruhia. ohne irgendwie das Behagen 
einer Gäste zu vernachlässigen. Genebra be⸗ 
bachtete ihn nicht mehr, ihr gauzes Wesen 
var nun von anderen Dingen in Anspruch 
zgenommen. Die Veränderung des Vaters konnte 
hr nicht entgehen, sie brachte sie selbstver⸗ 
dändlich mit dem geheimen Einfluß des Gra⸗ 
jen in Verbindung, und wagte kaum sich felbst 
zu gestehen, was Alles sie aus dessen Rach⸗ 
ziebiglkeit gegen den verhaßten Menfchen 
schlofß. 
Eines Morgens begab sie sich später, als 
zewöhnlich zum Frühstück und fand Graf 
dubin allein im Speisesaal. 
„Nun erst erhebt sich Aurora,“ sprach er 
nit süßem Lächeln, „man sagt, daß gütige 
Feen einzelnen Sterblichen magische Angebinde 
»erleihen, an ihrer Wiege muß Venus selbst 
gestanden haben.“ 
„Verschwenden Sie ihre Complimente 
nicht, Herr Graf,“ entgegnete sie verächtlich, 
„sie sind entschieden mehr, als verloren“ 
„Was aus warmem ehrlichen Herzen 
'ommt, geht nicht dverloren. An allgemeine 
duldigung gewöhnt, haben Sie es vielleicht 
nicht der Mühe werth gehalten, sich zu fra⸗ 
zen, welchen Eindrudk Sie auf Ihren gehor⸗ 
amen Diener machten.“ 
Genevra stand am Fenster und blicktte 
sinaus. Bei diesen Warten wandte sie sich um 
ind sprach herausfordernd: „Ganz richtig, ich 
zade es nicht der Mühe werth gehalten.“ 
„Es sei deun meine süße Pflicht, es Sie 
zu lehren.“ BF 
Nichts konnte verdächtlicher sein, als bas 
dächeln, das über die schönen Züge glitt, 
iber fie schwieg. Lubin errothete.