St. Ingberker Anzeiger.
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M 8I. Samstag, den 22. Mai
1880.
Fürst Bismarck und die Kolonisation.
Ebenso wie die bedrängte deutsche Industrie über die Köpfe
der Delbrück-Camphausen-⸗Bamberger hinweg an den Fürsten Bis—
marck appellirte und trotz scheinbarer Erfolglosigkeit immer wieder
und schließlich doch mit Erfolg appellirte, ebenso halten große und
täglich größer werdende Volkskreise in Deutschland voller Inbrunst
an dem Glauben fest, daß unser armes, ohne eigene Kolonien auf
die Dauer existenzunfähiges Vaterland nur durch Bismarck in den
Besitz der erforderlichen Kolonien gesetzt werden kann. Der Kalkul,
auf welchen sich diese Meinung stützt, ist von elementarer Einfach—
heit. Großes erwartet man naturgemäß von dem, der schon Gro—
zes vollbrachte. Doch nicht nur die persönliche Energie und That⸗
kraft des Fürsten zieht man dabei in Betracht, ebenso sehr, ja
vielleicht noch mehr sein Ansehen, seinen europäischen Nimbus,
dermöge dessen ihm Manches leicht werden dürfte, was einem Nach—
'olger selbst in dem nicht wahrscheinlichen Falle gleicher Begabung
ichwer, ja unmöglich fallen könnte. Deutschland betrachtet die ge—
genwärtigen höchsten Spitzen unseres Staatswesens — den Kaiser
Wilhelm, den Diplomaten Bismarck und den Strategen Moltte —
als eine ausnahmsweise seltene und glückliche Konstellation des
Himmels, welche in demselben Maße voll ausgenutzt werden muß,
als ihr langes Ausbleiben seither unserer vaterländischen Ent—
wicklung schadete.
Was Deutschland verlangt, ist nichts Unbilliges, nichts, was
es nur für sich beansprucht, ohne es den Nachbarnationen nicht
ebenfalls zu gönnen.
Frankreich, England, Italien, Spanien und Rußland erfreuen
sich einer vollen nationalen Einheit. Selbst wenn Deutschland
ein nämliches Maß von nationaler Zentralisation und Konsoli-
dation anstrebte, würde es nur sein gutes Recht ausüben und dem
Ausland keinen Anlaß zu Eifersucht und Mißtrauen darbieten.
Weil uns ein Kleeblatt, wie das genannte, seither fehlte, blieb
Deutschland als Nation ein zerbrochenes Gefäß. Dann bekamen
wir die Männer, um das vernachlässigte Werk in Angriff zu
nehmen? Vieles haben sie bereits gethan, Manches können sie
noch thun, und zwar ganz ohne physische Gewalt, vielmehr blos
durch die moralische Autorität der Thatsache, daß sie überhaupt
noch da sind.
Das betrifft das Allgemeine der nationalen Wiedergeburt.
Speziell die Kolonien betreffend, so ist Deutschland nicht
lüfstern nach fremdem Besitz, nach fremden Kultur- und Kolonisa—
tionspositionen. Bescheiden wie immer beschränkt sich sein Wunsch
auf den loyalen Wettbetrieb bei den noch herrenlosen Territorien.
„Die Welt wird getheilt werden. Und wenn dann „mit
der Zeit“, wie unsere Weisen sagen, daran gedacht wird, unsere
Auswanderung auf eigene Gebiete zu lenken, wenn man sich dann
nach passenden Gegenden umsieht, dann wird eben Alles wegge⸗
geben sein. Wir sind von dem Leiter unserer auswértigen Poluif
an eine solche „meisterhafte Unthätigkeit“ allerdings nicht gewöhnt.
Und wir leben Gott sei Dank doch auch nicht mehr in der Zeit,
wo Deutschland den Spielball zwischen dem Kaiser Nikolaus und
Vord Palmerston abgab. Folgen wir nur dem Beispiele Englands!
Petitionen sind non Deutschen im Auslande eingelaufen und
Petitionen laufen heut noch ein, die Reichsregierung ersuchend,
dies oder jenes Stückchen Erde in festen Besitz zu nehmen. Sind
sie nicht vergebens abgesandt worden? Und werden nicht auch
andere zukünftige ihr Schicksal theilen? Man darf ja keinen An—
stoß geben. Nur hübsch sacht stets, sacht und bedacht! stets?!
Ja da möchte man mit jenem wackeren alten Zecher rufen: Her⸗
aus Du zahmer Gesell!
Es gibt im politischen wie im privaten Leben zwei Arten
von Sünden: Begehungs⸗ und Unterlassungssünden, und obschon
man die letzteren milder abzuurtheilen pflegt, als die ersteren, so
ist durch das Nichtsthun oft mehr Unheil angerichtet worden als
Aurch Thätigkeit. Und der Name mehr als eines großen Mannes
mn der Geschichte wird verdunkelt, weil er die That zur rechten
Zeit versäumte.
Allzeit Mehrer deß Reichs, das war der stolze Titel der deut⸗
hen Kaiser von jeher. Das sollten unsere Staatsmännet in der
Wilhelmstraße nicht vergessen. Man schaffe unseren auswandern⸗
den Brüdern Heimstätten jenseits des Ozeans, man gründe Han—
delskolonien auf eigenem Grund und Boden. Das wird unsere
Bevölkerungsziffer wirksamer steigern als Auswanderungsverbote.“
Diese Worte, welche das Preßorgan des Zentralvereins für
Handelsverkehr schreibt, verdienen das kräftigste Echo nach der
döhe und in der Weite. Im Reichstage fanden sie dies verdiente
Echo bei Gelegenheit der Samoavorlage nicht und zwar, wie ein
großer Theil der Opponenten behauptet, deshalb nicht, weil „nicht
ersichtlich war', daß die Samoavorlage der bewußte Anfang einer
ystematischen Kolonialpolitik Deutschlands sein sollte. Das „Bis⸗
hen Somoa“ hat nicht imponirt.
Da Fürst Bismarck die Welt einmal nicht an Quincaillerie
gewöhnt hat, so erwartet sie Größeres von ihn. Mögen diese
Erwartungen baldigst in Erfüllung gehen!
Deutsches Neich.
Aus Munchen schreibt man der „Frkf. Z.“: Der Regier⸗
ungsrath v. Müller, seit kaum einem halben Jahr Cabineissecretär,
ist nicht mit dem Hoflager nach Berg übergesiedelt, dagegen wurde
der frühere Cabinetssecretär Ministerialrath v. Ziegler nach Berg
»erufen und soll nach Zusage einiger gestellter Bedingungen, wor—
inter seine Befreiung vom Nachtdienst, in die Cabinetssecretärstelle
wieder eintreten. Ueber den Grund der Verabschiedung des Re—
zierungsraths v. Müller verlautet noch nichts Bestimmtes; nach
einer Version entsprach die Persönlichkeit desselben dem Monarchen
nicht mehr; nach einer zweiten Lesart verursachte die Rudhard'sche
Angelegenheit seinen Rücktritt, indem Herr v. Müller es unterließ,
ofort dem Staatsminister des Aeußern und dadurch Hrn. v. Rud⸗
jard Kenntniß davon zu geben, daß der Konig der Bismarck'schen
Anfrage bezüglich der Hamburger Angelegenheit zustimme.“
Der „Augsburger Abendzeitung“ zufolge wird der deutsche
dronprinz Ende August und Anfang Septemper Theile der bayer⸗
schen Armee besichtigen, und zwar die Infanterie und Artillerie in
deren Garnisonen, die Cavallerie bei den Divisionsübungen in der
NRähe von Aichbach.
Welche Bedeutung man in Dresden dem Berliner Besuch
»es Königs Albert beilegt, spricht ein Artikel der in sächsischen
Dingen stets gut informirten „Dresdener Nachrichten“ aus, der
ilso lautet: „Fürst Bismarck kann sich über Vernachlässigung durch
gjekröͤnte Häupter nicht beklagen. Kaum ist sein angestammter
dönig und Herr, der ruhmgekrönte Kaiser Wilhelm, von dem
Frühjahrsaufenthalt in Wiesbaden nach seiner Residenz Berlin zu—
rückgetehrt, so stattet er ihm in seiner Amtswohnung einen Besuch
1b. Der König von Bayern steht in ununterbrochenem, regem
brieflichem Verkehr mit dem Fürsten Bismarck. Wenige Stunden
nach seinem Eintreffen empfängt auch unser Landesherr, König
Albert, den Reichskanzler in einer Audienz, die sich nahezu eine
Stunde ausgedehnt. . Abgesehen von der hohen Ehre dieses per⸗
önlichen Verkehrs von drei Monarchen des Deutschen Reiches mit
dessen Kanzler, liegt für diesen gewiß der Hauptwerth darin, daß
ex über die Anschauungen der führenden Fürsten Deutschlands auf's
Lingehendste unterrichtet wird und die unmittelbarsten, frischesten
Findrücke von ihren Willensmeinungen erhält. Der Verkehr des
Reichskanzlers mit den drei Königen kann ihm nur bestätigt haben,
vas schon längst landeskundig ist: daß dieselben in echt fürftlicher
Besinnung allezeit dem Reich, seiner Große und seinem Wohl ihre
Macht zur Verfügung stellen. Nicht minder darf man, ohne Zeuge
dieser Audienzen gewesen zu sein, wohl annehmen, daß, soweit das
Hespräch die innere Politik des Reiches berührt hat, auch der
Grenzlinie gedacht wurde, deren Innehaliung zur Wahrung der
—AV
sinie ist ja keine Zollinie, die ein einzelner Faktor quer über die
Elbe legen kann; sie beruht, wie neulich der Kanzler selbst sehr
ichtig im Reichstage darlegte, auf den Verträgen der deutschen
Jürsten unter einander. Gewiß hat König Albert in der dem
Kanzler gewährten Audienz die Hamburger Frage, welche eine
zrage der Verfassung selbst ist, mit — Hier decken
ich ija die Rechte der Fürsten wie der Freien Städte völlig