Full text: St. Ingberter Anzeiger (1880)

St. Ingberler Anzeiger. 
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MA. 133. Samstag, den 21. August 
1880 
Deutsches Reich. 
Der Wittelsbach-Jubiläumsfeier schenkt man auch 
weit außerhalb der weiß-blauen Grenzpfähle große Aufmerksamkeit. 
Daß von Wien Berichterstatter dortiger Zeitungen zum Theil schon 
in München sind und mancher sich noch einfinden wird, nimmt 
nicht wunder; allein auch Paris wird seine Reporter senden. Auch 
ein Herr Jakson vom New⸗-Yorker „Herald“ weilt schon dort, um 
während der Jubeltage sofort seinen amerikanischen Mitbürgern 
das, was sich ereignet, mittelst Telegraph zu übermitteln. Freilich 
wird sich der Letztere in ei ner Voraussetzung getäuscht finden; 
denn wie bis jetzt verlautet, wird eine Betheiligung Sr. Maj. des 
Königs an den Feierlichkeiten der Haupt- und Residenzstadt nicht 
Statt finden. 
Zu den hohen Staatsbeamten, welche gegenwärtig in Kijs⸗ 
singen weilen, gehört nunmehr auch, wie der Staatsanzeiger 
amtlich mitgetheilt hat, der Unterstaatssekretär im preußischen Kul⸗ 
tusministerium Herr von Goßler. Es wird nicht fehlen, daß diese 
Reise allerlei Kombinationen hervorruft, welche noch dadurch eine 
ganz besondere Richtung annehmen werden, daß außer dem Kar—⸗ 
dinal Hergenröther, welcher sich gegenwärtig in Kissingen befindet, 
seit dem 16. ds. auch der Bischof von Würzburg, Dr. Stein, die 
Badestadt an der fränkischen Saale besucht hat. Wie bairische 
Blätter melden, gilt als Zweck der Reise die Vornahme der Fir— 
mung, die aber sonst nicht um diese Jahreszeit zu geschehen pflegt. 
Bekanntlich sind es jetzt gerade zwei Jahre her, daß der päpstliche 
Nuntius Masella seinen denkwürdigen Aufenthalt in Kissingen 
nahm und ist damit gewissermaßen der Gedankengang, in welchem 
sich die Kombinationen bewegen werden, von selbst gegeben. 
Gerl. Tgbl.) 
Der frühere bayerische Ministerpräsident v. d. Pfordten 
ist gestorben. (Ludwig Karl Heinrich Frhr. v. d. Pfordten, bayer. 
Staatsmann, geb. 11. September 1811 in Ried im Innpiertel, 
ward 1834 Professor des römischen Rechts zu Würzburg, 1841 
Appellationsgerichtsrath zu Aschaffenburg, 1843 Professor zu Leip⸗ 
zig, vom März 1848 bis Februar 1849 sächsischer Kultusminister, 
im April 1849 bayerischer Minister des kgl. Hauses und des 
Auswärtigen, im Dezember 1849 Ministerpräsident, entschiedener 
Gegner der preußischen Hegemonie und Vertreter der Triasidee, 
n der inneren Verwaltung absolutistisch- reaktionär, im April 
1859 entlassen und zum Bundestagsgesandten in Frankfurt er⸗ 
nannt, hier die Seele der gegen die Politik der beiden deutschen 
Großmächte gerichteten mittelstaatlichen Bestrebungen, seit Dezember 
1864 wieder bayerischer Ministerpräsident, im Frühjahr 1866 be—⸗ 
müht, den Frieden zu erhalten, lehnte die von Preußen Bayern 
wiederholt angebotene Bundesgenossenschaft ab, schloß den Frieden 
mit Preußen [22. Aug.] und erhielt am 29. Dezember seine 
Entlassung.) 
Der „Reichsanzeiger“ meldet: Der Kaiser hielt an das erste 
Harderegiment zu Potsdam am 18. August folgende Ansprache: 
„Die preuß. Armee begeht heute für die Theile, welche 1870 die 
erste und zweite Armee bildeten im Verein mit den damals uns 
verbündeten sächs. und hess. Truppen den zehnjährigen Jahrestag 
der ruhmreichen Schlacht von St. Privat-Gravbelotie. Ich habe 
das erste Garderegiment um mich versammelt als das erste Regi— 
ment meiner Armee nicht nur dem Rang nach, sondern weil es 
denselben auf allen Schlachtfeldern der Neuzeit zu erkämpfen wußte. 
Ich erwarte, daß das Regiment stets dieses Tages bewußt bleiben 
und dies in Krieg und Frieden bethätigen wird. Daher betrachte 
ich es heute als den Vertreter der ganzen Armee. Der schwer er⸗ 
kämpfte Sieg von St. Private-Grabelotte ist der Wendepunkt zu 
den großen Erfolgen des Krieges von 1870/71 geworden, was man 
am Abend der Schlacht kaum ahnen konnie. Sie hat große und 
schmerzliche Opfer verlangt; ich brauche in diesem Kreis nur den 
Namen v. Roder zu nennen. Wir achten diejenigen alle, welche 
ihr Leben hingaben zum Ruhm des Vaterlandes. (Bei diesen 
Worten entblößte der Kaiser das Haupt.) Nie wird in meinem 
Herzen die Dankbarkeit erloöschen für den Heldenmuth, die Tapfer⸗ 
keit, Hingebung und Ausdauer, mit welcher die Armee gefochten. 
Erneuert spreche ich hiermit diese Anerkennung aus.“ 
Wie aus sicherer Quelle verlautet, wird die Gruppe v. For⸗ 
kenbeck, Freiherr v. Stauffenberg, Dr. Ricert u. s. w. noch vor 
Schluß dieses Monats einen Aufruf zur Sammlung der 
liberalen Partei veröoffentlichen, der sich vorzugsweise auf 
dem Boden der freiheitlichen und entschieden freihändlerischen Reichs⸗ 
politik bewegen wird; wie es scheint, mit besonderer Rücksicht auf 
die im nächsten Jahre bevorstehenden Neuwahlen. 
Der Abfall von drei angesehenen Sozialdemokraten, unter 
welchen zwei zu den Größen ihrer Partei, ihren Kandidaten bei 
den Reichstagswahlen gehörten, von ihrer bisherigen Partei, ist ein 
sehr beachtenswerthes und erfreuliches Ereigniß. Sie sprechen offen 
aus, daß sie die Arbeiterbewegung nicht in revolutionärem Sinne 
aufgefaßt haben, sondern auch unter den heutigen Verhältnissen 
jeden Vortheil wahrnehmen und nicht um des lieben Skandals 
willen zurückweisen müssen. Sie wollen die heutige Gesellschaft 
aicht in unsinniger und zielloser Weise erstürmen, sondern duͤrch 
angsame Belagerung zur Kapitulation zwingen. Die drei Ham⸗ 
urger Sozialdemokraten sind auf gutem Wege zu besserer 
Linsicht, vielleicht begreifen sie mit der Zeit, daß die heutige Ge— 
ellschaftsordnung einen wesentlichen Fortischritt gegen die Gesell⸗ 
chaftsordnung aller früheren Zeiten darstellt, daß sie in manchen 
Punkten der Verbesserung bedürftig sein mag, derselben aber auch 
ähig ist, und daß nur auf dem Wege von Reformen auf Grund— 
age der gegenwärtigen Gesellschaft dauernde und bleibende Erfolge 
m Interesse der arbeitenden Klassen gewonnen werden können. 
Wenn sie in diesem Sinne mit den Gewerkvereinen und anderen 
auf dem Boden der gegenwärtigen Staatsordnung stehenden Ar— 
»eiterkreisen wirken wollen, wird der Sache der sozialen Reformen, 
welchen die Eindämmung des sozialdemokratischen Unwesens die 
Wege bahnen mußte, ein großer Dienst geschehen sein. Jedenfalls 
saben wir hier ein bedeutsames Symptom für heilsame Wirkungen 
des Sozialistengesetzes, wie denn Hasselmann in der Einsicht, hier 
einen Boden für seine rothe Republik zu finden, der Partei seine 
weifelhaften Dienste entzogen hat. 
Ausland. 
Der französische Ministerpräsident Freycinet empfing in 
Montauban u. a. Vertreter des dortigen Arbeitervereins, zu denen 
er sich in folgender Weise äußerte: „Wir werden beständig dem 
dande den Frieden zu erhalten suchen, welcher glücklicher Weise in 
einer Weise bedroht ist. Im Inneren werden wir die Achtung 
yor den Gesetzen zu sichern suchen, welche die beste Schutzwehr der 
allgemeinen Freiheit ist.“ — Zu den Officieren der Garnison, die 
er gleichfalls empfing, sich wendend, belobte Freycinet die Armee, 
indem er dem Heroismus derselben unter schwierigen Verhältnissen 
Anerkennung zollte: er zweifle nicht, daß die Armee sich mit dem 
zleichen Heroismus aufopfern würde, wenn dies, was Gott verhüte, 
eine gebieterische Nothwendigkeit erheischen sollte. Frankreich folge 
»en Fortschritten der Armee mit berechtigtem Stolz und finde darin 
seine Ehre und seine Unabhängigkeit.“ — Der officiöse „Temps“ 
veist auf den friedlichen Ton der von Freycinet gehaltenen An⸗ 
prachen hin und bemerkt dazu: „Diese so einfache und kategorische 
Sprache des Cabinetschefs wird alle irrigen Commentare abschneiden 
und außer allen Zweifel stellen, daß die Politik der franzöoͤsischen 
Regierung eine Politik des Friedens ist.“ 
London, 19. Aug. Nach Depeschen, welche der Regierung 
zugegangen sind, hat die Lage in Irland einen ernsten Charakter 
angenommen; der Generalsekretär für Irland, Forster, ist in Folge 
dessen sofort nach Dublin abgereist. (Dadurch, daß das Oberhaus 
neulich den Gesetzentwurf verwarf, welcher den Pächtern eine etwas 
Jünstigere Stellung gegenüber den Grundeigenthümern geben sollte, 
ist die Gährung in Irland bedeutend gewachsen.) 
Die europäischen diplomatischen Doktorn quacksalbern noch 
mmer am türkischen Leichnam herum. So hat die noch immer 
in Konstantinopel tagende europäische Reformkommission die zweite 
Lesung des Reglementsentwurfs für die europäischen Provinzen