Full text: St. Ingberter Anzeiger (1880)

St. Ingberler Myzeiger. 
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AM IAd. 
Samstag, den 4. September 
1880. 
Deutsches Reich. 
Die Gutachten, welche die bayerische Staatsregierung in 
Betreff des dem Bundesrathe vorliegenden Antrags auf Beschränk⸗ 
ung der Wechselfähigkeit von kgl. Gerichten und ver— 
schiedenen Korporationen sich hat erstatten lassen, liegen nun vor 
und sprechen sich mit geringsten Ausnahmen gegen jede Beschränk— 
ung aus. Unter diesen Verhältnissen wird anzunehmen sein, daß 
fich die bayer. Regierung im Bundesrath gegen jenen Antrag er— 
fklären wird, und das um so mehr, als dieselbe, so viel bekannt, 
ichon bisher eine Beschränkung der Wechselfähigkeit weder für noth— 
wendig und zweckentsprechend, noch auch nur für ausführbar hielt. 
Der preußßzische Landtag soll Mitte Okltober zusammen⸗ 
treten. 
Die Berufung des Bundesraths wird frühestens in 
den letzten Tagen ds. Monats voraussichtlich aber erst im Oktober 
erfolgen. Dringende Arbeiten liegen nicht vor. Zudem bleibt vor 
allem die Frage des jetzt erledigten Vorsitzes zu ordnen, den ein⸗ 
tretendenfalls Graf Stolberg zu übernehmen haben soll. 
Die 30 Abgeordneten, welche bis jetzt ihren Austritt aus 
der nationalliberalen Partei erklärt haben, sind nicht die 
einzigen, welche sich zu den in ihrer Erklärung aufgestellten Ge— 
sichtspunkten bekennen. Manche, denen die Erklärung zugeschickt 
wurde, haben ihre Antwort noch gar nicht ertheilt, manchen auch 
lkonnte sie, da sie augenblicklich auf Reisen sind, gar nicht zugeschickt 
werden. Man bemerke auch wohl: die Ausscheidenden wollen nicht 
eine feindliche Stellung zu dem Rest der nationalliberalen Partei 
einnehmen, schon deßhalb nicht, weil sie sich im Großen und Gan— 
zen zu den gleichen Grundsätzen bekennen; was sie scheidet, ist die 
Verschiedenheit der Ansichten über das, was in jedem gegebenen 
Fall zu thun ist. Die Ausscheidenden find der Meinung, die sog. 
Zompromißpolitik sei schon viel zu weit getriebeu worden, und es 
sei vom Uebel, fort und fort Grundsätze des Liberalismus in der 
Praxis der Regierung zu Liebe zu opfern, nur damit die liberale 
Partei Regierungspartei bleibe; es sei vom Uebel, wenn die Libe— 
ralen, mit Verlängerung ihrer Grundsätze zu reaktionären Maß— 
regeln ihre Zustimmung geben wollten, nur damit die Regierung 
sich nicht an die Konservativen und das Zentrum wende, um mit 
deren Hilfe dieselben Maßregeln in's Werk zu setzen. Als Grund 
für ihre Kompromißlust gaben die Anhänger Bennigsens bisher 
immer an, wenn die Regierung durch die Weigerung der Liberalen 
genöͤthigt würde, sich auf die Konservativen und das Zentrum zu 
stützen, würden diese derselben am Ende noch schlimmere Maßregeln 
aufnöthigen. Der linke Flügel der Nationalliberalen, der jetzt aus— 
tritt, ist aber der Ansicht, durch das ewige Nachgeben müsse sich 
der Liberalismus moralisch selbst ruiniren, und wenn er diese Selbst⸗ 
hinrichtung vollzogen habe, dann hätten Konservative und das Zen⸗ 
trum doch freies Feld; also, wenn diese denn noch einmal obenauf 
kämen, wäre es besser, der Liberalismus halte sich moralisch un⸗— 
bersehrt; dann hätte er eher Chancen, bald die gegnerischen Par— 
leien wieder wegzudrücken, als wenn er durch Verlängerung seiner 
Grundsätze selbst sich die Kraft daeazu nehme. — Von den 30 Ab⸗ 
geordneten, welche sich losgesagt haben, gehörte nur die Hälfte (15) 
dem deutschen Reichsstage an. Die „Machtfrage“ zwischen Ben⸗ 
nigsen einer⸗ und Bamberger⸗Forckenbeck-Lasker⸗Rickeri⸗Stauffenberg 
anderseits ist vorerst zu Gunsten des ersteren entschieden, denn mit 
der Gruppe Schauß⸗Völk und den beiden konservativen Parteien 
würden die 70 verbliebenen Anhanger der nationalliberalen 
Sache gegen Zentrum, Fortschritt, Polen, „Sezessionisten“, Sozial⸗ 
deniokraten und Volksparteiler noch immer die Reichsstags- 
mehrheit bilden. Ob aber dieselbe, bemerkt die „Südd. Pr.“, 
exhalten bleibt, ist freilich eine andere Frage, und sie wird von 
wei verschiedenen Dingen abhängen: don der Aufnahme des jetzt 
oeroͤffentlichten Programms, wie der zunächst eintretenden inneren 
Politik des Reichskanzlers. Der letzte Faktor ist allerdings 
der wichtigste. 
Es ist bemerkenswerih, daß die offizidse „Nordd. Allg. Z.“, 
welche seiner Zeit mit großer Energie für die „große konser 
pative Partei“ in's Zeug ging, jetzt den Konservativen vom 
Schlage des Reichsboten“ underblümt den Laufpaß gibt. Dieses 
yyperkonservative Blatt hat nämlich -neuerdings den Gedanken einer 
»edingungslosen Unterstützung der Regierung seitens der Konserva⸗ 
iven abgewiesen, indem es der Regierung vorhielt, sie treibe eine 
‚liberale Politik mit conservativen Manieden und benutze die Kon— 
ervativen nur als Hemmschuh, um den Liberalismus vor Ueber⸗ 
türzung zu bewahren und dessen Herrschaft zu sichern“. Das 
»eranlaßte nun die „N. A. Z.“ zu einer scharfen Entgegnung, an 
)eren Schluß es heißt: 
„Wie es scheint, treiben im „Reichsboten“ dieselben Leute ihr 
Wesen, die sich einst zu den bekannten Aeraartikeln der Kreuzzeitung“ 
nerstiegen, dieselben Leute, welche zu keiner Zeit im Stande ge— 
wesen, den Staat zu leiten, wohl aber im Stande, die Regierung 
nn wichtigen Momenten zu lähmen und dadurch unabsehbaren 
Schaden zu stiften. Es wäre wünschenswerth, daß diese Elemente 
ich ebenso von der konservativen Partei ablösten, wie ihre Gegen— 
füßler, die verkappten Fortschrittler von der nationalliberalen Partei, 
denn nur dadurch ist das Gedeihen unserer Zukunft möglich, daß, 
vie der Reichskanzler vom 9. October 1878 gesagt hat, „alle die⸗ 
enigen, die überhaupt die staatliche Entwickelung auf der Basis des 
etzigen Reiches wollen, sich unter einander verständigen, sich näher 
meinander anschließen und sich nur über sachlich ganz unabweisliche 
differenzen trennen“. — Verkappte Fortschrittler widerstreben der 
,staatlichen Entwickelung auf der Basis des jetzigen Reiches“, gegen 
)erartige Vorwürfe sollten Männer wie Forckenbeck, Stauffenberg und 
Rickert denn doch wohl gesichert sein. Was die Sache selbst anlangt, so 
st es sehr angenehm, zu vernehmen, daß die Regierung sich nicht 
yon den Stockkonservativen will meistern lassen, sondern sich vom 
Hals zu halten gedenkt. 
Der Vereinstag der deutschen Kredit⸗ und Wirthschafts⸗ 
Genossenschaften zu Altona ist zu Ende, und es ist diesmal 
yon besonderem Interesse, auf die geführten Verhandlungen zurück— 
ublicken. Dieselben haben gezeigt, daß die Ergebnisse des deutschen 
Benossenschaftswesens im abgelaufenen Jahre recht befriedigend 
varen. Die verschiedenen Zusammenbrüche, welche während der 
virthschaftlichen Krisis einen Augenblick Beunruhigung in die Reihe 
zer Genossenschafter gebracht hatten, sind nunmehr meist glücklich 
iberstanden. Neue nennenswerthe Stochungen haben im abgelau— 
enen Jahre nicht Statt gefunden. Aus dem von Schulze⸗Delitzsch 
erstatteten Rechenschaftsberichte ist denn auch zu entnehmen, daß die 
Venossenschaften gegenwärtig die wirthschaftliche Krisis vollständig 
iberwunden haben, und daß sie sich einer noch immer zunehmenden 
Prosperität erfteuen. 3300 Vereine sind der Anwaltschaft nament⸗ 
ich bekannt. Dieselben zählen über eine Million Mitglieder. 
diese repräsentiren etwa fünf Millionen Einwohner. Aus dem 
leinen gegenseitigen Kreditvereine, der vor dreißig Jahren in dem 
ZStädtchen Delitzsch einem halben Hundert Kleinbürgern unter die 
Arme zu greifen bestimmt war, ist ein über ganz Deutschland aus⸗ 
zedehntes Netz von Vereinen geworden, deren einzelne bis zu fünf⸗— 
ausend Mitgliedern zählen, und deren Geschäfts-Umsatz im Jahre 
879 über zwei Milliarden Mark betrug. Nicht nur äußerlich sind 
ie Vereine im abgelaufenen Jahre erstarkt, auch innerlich haben 
dieselben sich gekräftigt. Das Verhältniß des eigenen zu dem 
remden Kapitale ist ein erheblich günstigeres geworden. Zahl⸗ 
reiche fachkundige Revisoren sind eingesetzt worden. Dreiunddreißig 
Zrovinzialverbande, welche mehr auf der Stammesangehörigkeit 
ils auf der Staatsangehörigkeit beruhen, regeln in möglichster 
Selbstständigkeit ihre speziellen Angelegenheiten. Vor den allge—⸗ 
neinen Verbandstag kommen nur die gemeinsamen Angelegenheiten, 
und auch diese erst dann, wenn sie in den Versammlungen der 
Unterberbände gründlich vorberathen sind. 
Der öͤsterreichisch ungarische Minister des Aeußeren, Frhr. 
v. Haymerle, wird am Samstag, 4. September, den Fürsten 
Bismarck in Friedrichsruh besuchen. 
Ausland. 
Den Bemuühungen des französischen Ministers Freycinet 
st es wirllich gelungen, die nicht ermächtigten Ordensgemeinschaften 
u einer Erklärung zu veranlassen, worin dieselben ihre Bereitwillig⸗ 
eit zu erkennen geben, sich den bestehenden Gesetzen zu fügen und 
ich dvon allen politischen Umtrieben fern zu halten.