Full text: St. Ingberter Anzeiger (1880)

St. Ingberler Anzeiger. 
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40 187. Dienstag, den 23. November 1880. 
Deutsches Neich. 
In Berlin wurde am 19. Nov. der neunte deutsche Hau— 
delstag eröffnet. Es hatten sich etwa 200 Theilnehmer einge— 
funden. Namens der deutschen Reichsregierung begrüßte Minister 
Bötticher die Versammlung. In seiner Rede äußerte er sich 
über den, jetzt zunächst für Preußen in's Leben gerufenen Volks— 
wirthschaftsrath folgendermaßen: „Vor zwei Jahren beriethen Sie 
über die Bildung eines deutschen Volkswirthschaftsrathes und faßten 
damals mit geringer Majorität den Beschluß zu Gunsten der Bild⸗ 
uing eines solchen. Vor einigen Tagen hat der König von Preußen 
die Verorduung erlassen, wonach der Volkswirthschaftsrath demnächst 
zebildet werden soll. Die Einrichtungen des preußischen, Volks— 
virthschaftsrathes sind derartig, daß jederzeit dessen Erweiterung 
auf die anderen deutschen Bundesstaaten gestattet ist. Die deutschen 
Bundesregierungen lehnten nur aus äußeren Gründen vorläufig die 
Bildung eines deutschen Volkswirthschaftsrathes ab. Bei Gelegen— 
jeit der Besprechung von Handels- und gewerblichen Fragen in 
der nächsten Reichstagssession möchten die Regierungen des Beiraths 
einer solchen Körperschaft zwar nicht entbehren; dieselben halten 
iber die Zeit von der Bildung des deutschen Volkswirthschafts- 
rathes bis zum Beginn des Reichstages für zu kurz. Es koönnte 
zielleicht den Anschein haben, als sei in Folge der Bildung des 
Volkswirthschaftsrathes die Aufgabe des deutschen Handelstages er⸗ 
ledigt. Allein die Aufgaben des Volkswirthschaftsrathes sind sehr 
beschränkt. Die Reichsregierung hofft nach wie vor auf den werth⸗ 
zollen Beirath des deutschen Handelstages.“ 
Der Zweck des durch allerhöchste Verordnung ins Leben ge— 
rufenen Volkswirthschaftsrathes für Preußen ist solgender: Ent⸗ 
würfe von Gesetzen und Verordnungen, welche wichtigere wirthschaftliche 
Interessen pon Handel, Gewerbe und Land- und Forstwirthschaft 
betreffen, sind, bevor sie der königlichen Genehmigung unterbreitet 
werden, in der Regel von Sachverständigen aus den betheiligten 
wirthschaftlichen Kreisen zu begutachten. Dasselbe gilt von den auf 
den Erlaß von Gesetzen oder Verordnungen bezüglichen Anträgen 
und Abstimmumgen Preußens im Bundesrathe, soweit dieselben das 
zedachte wirthschaftliche Gebiet berühren. Die Begutachtung erfolgt 
durch den nach den Bestimmungen dieser Verordnung zu bildenden 
Volkswirthschaftsrath. 
Im preußzischen Abgeordnetenhaus kam am 20. Nov. die 
Interpellation der Fortschrittspartei bezüglich der Judenfrage zur 
VLerhandlung. Abg. Hänel wies auf die Beschlüsse des Berliner 
Kongresses bezüglich Rumänien's, Serbien's und Montenegro's hin, 
zurch welche dort die Gleichberechtigung der Juden ausgesprochen 
worden sei; er hebt hervor, daß die Merkmale einer tausendjährigen 
nechtschaft nicht mit einem Schlag verschwinden könnten; er sagt, 
die Antisemiten⸗Bewegung sei aus Rassenhaß entstanden. 
Der Stellvertreter des Ministerpräsidenten, Graf Stolberg, 
erwidert, daß die in der Interpellation erwähnte Petition bisher 
nicht an die Staatsregierung gelangt sei, weshalb letztere nicht in 
der Lage war, Erwägungen darüber anzustellen; sie nehme gieich— 
wohl keinen Anstand, zu erklären, daß die bestehende Gesetz⸗ 
gebung die Gleichberechtigung der verschiedenen 
Konfessionen ausspreche, und daß die Regierung nicht 
heabsichtige darin eine Aenderung eintreten zu lassen. Es 
nüpfte sich daran eine Besprechung der Interpellation. 
Bebkanntlich hat die preußische Regierung beschlossen, 
die Grenzaufseher mit neuen Hinterladergewehren zu dersehen. Es 
dürfte daher die Mittheilung von Interesse sein, wonach auch im 
cussischen Finanzministerium jetzt dieselbe Frage ventilirt wird. Die 
russische Regierung will nämlich ihre Grenztruppen mit besseren 
und zweckentsprechenderen Waffen“ — wie der offizielle Ausdrud 
antet — versehen. Nach alledem zu uriheilen, versprechen ja die 
Verhältnisse an der preußisch-russischen Grenze in der Zukunft recht 
gemüthlich zu werden. 
Schon im Februar dieses Jahres ist bekanntlich ein von der 
seichsregierung ausgearbeiteier, auf den F120 Abs. 3 der Ge⸗ 
werbeordnung basirter , Entwurf von Vorschriften über den Schutz 
gewerblicher Arbeiter gegen Gefahren für Leben und Ge— 
undheit“ dem Bundesrathe vorgelegt und alsdann auch velröffent— 
licht worden. Aus den Kreisen der Industrie und des Gewerbes 
sind gegen diesen Entwurf mehrfach Einwände erhoben und damit 
der Wunsch verknüpft worden, es möchte derselbe, vor Weitergabe 
an die gesetzgebenden Faktoren, einer Prüfung durch Sachverständige 
unterzogen werden. In Uebereinstimmung damit hat denn auch 
der Bundesrath beschlossen: „den Reichskaänzler zu ersuchen, den 
Entwurf von Vorschriften ꝛc. durch eine Kommission von Sachver- 
tändigen prüfen zu lassen, welche befugt sein soll, nach ihrem 
Ermessen weitere Sachverstündige zu bernehmen.“ Diesem Gesuch 
hat der Reichskanzler Folge gegeben und die beantragte Kommisfion 
niedergesetzt. Dieselbe wird, wie man hört, Anfangs Dezember in 
Berlin zusammentreten. 
Die „Voss. Zeitung“ meldet, daß von leitender Stelle Hof— 
zrediger Stöcker bedeutet worden sei, sein Beruf als Hofprediger 
asse sich nicht mit dem eines christlich-sozialen Agitators vereinen. 
Stöcker hätte sich daraufhin entschieden, seine Stelle als Hofprediger 
aufzugeben, da er die christlich-soziale Agitation als die Aufgabe 
eines Lebens betrachte. 
Ausland. 
In Frankreich hat dieser Tage wieder ein neuer Beamten⸗ 
ind speziell Präfektenschub Stait gefunden. Mehrere Angehörige 
»er letztgenannten Klasse sollen bei der Ausführung der März⸗ 
ekrete nicht den nöthigen Eifer gezeigt haben. Wie oft seit der 
zefinitiven Einführung der Republik die Präfektur wohl eigentlich 
chon „purifizirt“ worden ist, wer kann es wissen ? 
Der französischen Nationalversammlung wurde 
durch den Minister für die öffentlichen Bauten ein Entwurf vor⸗ 
jelegt, der 120.000. 000 Fres. für die Vollendung der Landsiraßen 
erlangt. 
Am 21. Nov. fand auf dem Kirchhofe von Evéère (Gel⸗ 
zien) die Einweihung des Denkmals für die in den Jahren 1870 
ind 1871 in Belgien gestorbenen Soldaten Statt. Der franzö⸗ 
ische Gesandte dankte Belgien für seine hochherzigen Gesinnungen 
egen Frankreich und versicherte, die Regierung der französischen 
Kepublik habe trotz gegentheiliger Behauptungen niemals die Än— 
nexion Belgiens beabsichtigt, erblicke vielmehr in der belgischen eine 
yerbündete und befreundete Nation. 
Die Dinge bei Duleigno werden grotesk. Jetzt sollen so— 
jar nach einem amtlichen Telegramm aus Konstantinopel die Truppen 
Derwisch Paschas in der Umgebung von Dulcigno von Albanesen 
eingeschlossen sen. Die Albanesen weigern sich, das zuletzt zu 
den Fahnen einberufene Kontingent von Redifs (türkische Land 
vehr) zu stellen. Die albanesische Liga hat Osman Pascha ange⸗ 
eigt, daß sie jedem Versuche, das Dekrei des Sultans zur Aus— 
ührung zu bringen, mit Gewalt entgegentreten würde. 
In dem den naturalisfirten Deutschen in den Staaten der 
rwordamerikanischen Union zugefertigten Zirkulare des 
Staats⸗Departements werden, wie weiter mitgetheilt wird, keinerlei 
ieue Prinzipien aufgestellt, es handelt sich dabei vielmehr um eine 
infache Erläuterung des Naturalisationsvertrages. Die naturali— 
irten Deutschen werden ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, 
aß man ihnen keinerlei Garantien dagegen geben könnte, daß die 
»eutschen Behörden während eines Aufenthalts in Deutschland gegen 
ie einschritten, wenn ihre Verhältnisse zu den Gesetzen ihrer früheren 
deimath zweifelhaft sein sollten oder eine Richtigsiellung erheischten. 
der Schutz der Vereinigten Staaten werde aber fast immer wirk— 
am sein, wenn sie kein Verbrechen begangen oder während der 
Dienstzeit im deutschen Heere der Desertion sich nicht schuldig ge— 
nacht hätten, oder wenn sie frei wären von einer gesetzlichen Ver⸗ 
oflichtung, sich den Behörden zu stellen. Das Zirkulat erkennt 
abrigens ausdrücklich an, daß die deutsche Regierung in den Fällen, 
wo die dem Naturalisationsvertrage in Bezug auf die Elsässer ge— 
gebenen Auslegungen von einander abgewichen seien, immer in für 
die Auffassung der Unions-Regierung günstiger Weise entschieden 
habe. Das Zirkular warnt also in uümschriebener Form die natu— 
calisirten Deutschen Amerikas, welche sich widerrechtlich der allge⸗ 
neinen Militärpflicht in Deutschland entzogen haben, nach der 
alten Heimath zurückzukehren, ohne vorher die noch schwebenden 
Militär⸗Angelegenheiten bereinigt zu haben.