Hl. Ingberler nzeiger.
der St. Ingberter Anzeiger und das (2 mal wöchentlich) mit dem Hauptblatte verbundene Unterhaltungsblatt, (Sonntags mit illustrirter Bei⸗
age) erscheint wöchentlich viermal: Dienstag, Donnerstag, Samstag und Sonntag. Der Abonnementspreis beträgt vierteljahrlich
A40 S einschließlich Trägerlohn; durch die Post bezogen JI A 60 H, einschließlich 420 Zustellgebuhr. Auzeigen werden mit 10 H, von Auswärts
mit 15 — fur die viergespaltene Zeile Blattschrist oder deren Naum. Reclamen mit 80 pro Zeile berechnet.
— —
8 112. Samstag, den 16. Juli
1881.5
B. T. Reform durch Kolonien.
Ein sichtbarer und fast fieberhafter Zug hat die wichtigsten
md mit den dazu nöthigen Organen ausgerüsteten europäischen
ztaaten ergriffen, sich mit neu erwachtem Eifer einer Kolonial⸗
„olitik zuzuwenden, die man noch vor wenigen Jahrzehnten als
eine im Untergange begriffene, aus theoretischen wie praktischen
zründen unhaltbare zu betrachten geneigt war. Aber die thätigen
Arme der europäischen Völker sehnen sich nach Arbeit, und da sie
ꝛes gegenseitigen Aufeinanderschlagens wohl müde und auch wohl
u der Erkenntniß gekommen sind, daß sich auf die Dauer davon
ucht leben läßt, greifen sie instinktmäßig in die Ferne über das Meer
iinaus und suchen Stäiten, wo sie, territorial zwar losgelöst vom
uropäischen Boden, dennoch in fester und rückwirkender Verbindung
ait demselben Positives schaffen können, das ihnen persönlich und
em Machtkreise ihres Vaterlandes zu Gute käme. Die Regierungen
egünstigen dies Bestreben, denn es liegt darin eine Ablenkung der
berbrausenden Kraft von dem sehr explosiv gewordenen Boden
Furopas. England nimmt beständig Inseln selbst innerhalb Euro—
zas, ganze Inselgruppen in der Südsee, auch große Territorien
wuf festen Kontinenten, wie in Südafrika, in Beschlag. Neuer—⸗
»ings sind die romanischen Staaten in ganz besondere Aufregung
jerathen: Frankreich, Italien und Spanien brauchen nur über das
chmale Mittelmeer hinüberzugreifen und sich aus den Dependenzen
jes zur Ohnmacht abgeschwächten kürkischen Reiches leckere Bissen
uzulegen.
Deutschland könnte nach der Meinung derjenigen Politiker,
delche sich ein besonders kaltes Blut zutrauen. diesem Vorgange
uhig zuschauen, und würde daraus den meisten Vortheil ziehen,
venn es seinerseits solchen Ausdehnungsgelüsten widerstrebte und
eine Kraft auf dem alten heimischen Boden konzentrirte. Das
ört sich merkwürdig gut an, nur schade, daß überall im Leben
ine einzige Thatsache tausend Gründe niederschlägt. Diese eine
Thatsache ist die, daß der Deutsche massenhafter auswandert als
rgend ein anderes Volk. Und wie er in Nordamerika, in Austra⸗
ien und am Kap für die anglikanische Race arbeitet, so wird er
uch arbeiten in Tripolis, Tunis, Algier, Fez und Marokko für
Jtalien, Frankreich und Spanien. Schwer bedenklich ist der ma⸗
erielle Verlust der wirthschaftlichen Arbeitskraft für das Vaterland,
edenklicher jedoch der Umstand, daß wir mit unserer eigenen Kraft
ie wirthschaftliche und politische Macht unserer europdischen Rivalen
ortwährend verstärken. Es kann aber unmöglich etwas einleuch⸗
ender sein, als daß das Verhältniß der Machtsphären zwischen
»en europäischen Staaten dadurch fortwährend in rascher Progression
u Ungunsten Deutschlands verändert wird.
Wir haben deshalb seit langer Zeit einer verständigen Kolonial⸗
»olitik das Wort geredet und darauf hingewiesen, daß noch Strecken
on riesenhafter Ausdehnung und jungfräulicher Produktionskraft
zuf der Erde vorhanden sind, welche nur des kräftigen und ge⸗
ibten Männerarmes bedürfen, um überschüssige und in der Enge
„er Sphäre zur Gährung geneigte Elemente aufzunehmen und der
‚olitischen wie wirthschaftlichen Stellung Deutschlands neue Macht⸗
inge hinzuzufügen. Es hat auch in letzter Zeit an Vorschlägen
ind bestimmten Hinweisungen nicht gefehlt, aber es ist der Jammer
mserer überall zu Konflikten zugespitzten Verhältnisse, daß Re⸗
lsierung und Parlament sich nicht einmal zur Ausführung eines
esunden und sich gradezu aufdrängenden Gedankens von größter
ragweite miteinander verbinden können. Die „wirithschaftliche
seform im Innern“, das ist freilich ein hoch zu beachtender Ge⸗
anke, der jetzt die Parteien bewegt und sie eben je nach der Inter⸗
retation dieser Reform zu Parteien macht. Nun ist uns in diesen
etzten Tagen eine interessante Brochüre aus der Feder des Herrn
Iberregierungsraths Wülffing zugegangen, der den Erdkreis mit
olonial⸗ verstandnißvollem Auge bereist hat. Seine Devise ist:
Wirthschaftliche Reformen durch Kolonien.“ Dieser Wahlspruch
zeht uns allerdings etwas zu weit, denn wir meinen, daß die
virthschaftliche Reform nur aus einem der heimischen Erde ent⸗
vachsenden Gedanken, und nur gestützt auf die Verhältnisse der
)eimath geschaffen werden kann. Aber gerade bei derjenigen Ver—
mderung, die uns gegenwärtig erst unter dem Namen einer Re⸗
—
form aufgedrängt ist, erscheint uns eine verständige Kolonialpolitik
in bescheidenen Grenzen als das einzige empfehlenswerthe Linderungs⸗
mittel. Wem sie nicht als eine Tugend selbst erscheint, der be—
crachte sie als eine Noth, aus der man eine Tugend machen muß,
— so kommen vielleicht alle Varteien überein.
— —
Deutiches Neich.
Der bayer. Regierungsassessor Dr. v. Poschinger wurde
zum ständigen Hilfsarbeiter im Reichsamt des Innern ernannt.
Die Berliner „Provinzial⸗Korrespondenz“, veranlaßt durch
die thatsächliche Uebergabe des Griechenland zugewiesenen Gebietes,
agt: Die fernere friedliche Erledigung dieser Grenzberichtigung
st mit Sicherheit zu erwarten. So kann man heute, zwei Jahre
iach dem Berliner Vertrage, mit vollem Rechte sagen, daß dieser
Lertrage in einem seiner schwierigsten Punkte, in dem der griechisch—
ürkischen Grenzregulirung, wie überhaupt als Grundlage der fried—
ichen Beziehungen zwischen den Mächten seine Probe bestanden
hjat. Das allgemeine Bedürfniß nach Frieden fand allmälich in
ind mit dem Berliner Vertrag seine Befriedigung, so daß die
hJoffnung nicht unberechtigt erscheint, der Vertrag werde auch ferner,
ezüglich der noch offen gehaltenen Fragen, wie in seiner allgemei—
nen Bedeutung, sich als Band gegenseitigen Vertrauens zwischen den
uropäischen Mächten bewähren.
An anderer Stelle schreibt die „Provinzial-Korrespondenz“:
„Unsere Kaiserin befindet sich in entschieden zunehmender
Besserung ihres Gesundheitszustandes. Das örtliche Leiden ist fast
zänzlich geschwunden, die Oeperationswunde nahezu geschlossen.
luch das Allgemeinbefinden wird täglich besser, der anfänglich sehr
chwache Appetit hebt sich, und der Schlaf nimmt zu und äußert
eine wohlthuende, stärkende Wirkung. Bis zur völligen Genesung
vird allerdings noch einige Zeit vergehen; zu irgend einer Besorg-
aiß ist aber kein Grund mehr vorhanden, und die Aerzte der Kai—
erin haben daher die Ausgabe täglicher Bulletins eingestellt.
Der an den Reichstag gelangte, dort aber nicht erledigte
Buhl'sche Antrag auf Beseitigung der Weinfälschung dürfte doch
auf fruchtharen Boden gefallen sein; es sollen Vorbereitungen zur
Aufstellung eines darauf bezüglichen Gesetzentwurfs getroffen sein.
Bei den am 12. ds. statigehabten Ergänzungswahlen
zum fächsischen Landtage wurden nach vorläufiger Meldung
der Chemnitzer Zeitung gewählt: 14 Konservative, 6 National-
Liberale, 6 fortschrittliche Kandidaten, 1 Anhänger der Gewerbe—
Partei und 1 Sozialdemokrat (Bebel im Leipziger Landbezirk).
Ausgeschieden waren 12 Konservative, 9 National-Liberale, 8 fort
chrittliche Abgeordnete. Die Wahlbetheiligung war äußerst gering.
Nachrichten aus Mainaun zufolge empfing der Kaiser da—
elbst den Besuch des Königs und der Königin von Württemberg
owie des Prinzen und Prinzessin Wilhelm von Baden.
Ausland.
Frankreich feierte gestern (Donnerstag) 14. Juli, als am
Jahrestag der Erstürmung der Bastille, dem Geburtstag der Re—
volution und der Republik, sein „Nationalfest“. Die Maänner des
jeutigen Regime haben diesen Tag als Ersatz für die Festlichkeiten
des Napoleonstages (15. August) eingesetzt. Man muß sagen,
»aß die heutigen Erben des Kaiserreichs sich auf den Charakter des
ranzösischen Volkes nicht minder gut verstehen, als die Napoleoni-
»en; auch sie bieten ihm panem et circenses. Das französische
Temperament ist trotz aller trüben Erfahrungen ein heiteres ge—
»lieben; es neigt bei aller Arbeitsamkeit und Betriebsamkeit zu
länzendem Schaugepränge, zu lustigem Spiel und vergnüglicher
Zerstreuung. Diesem nationalen Trieb tragen auch die Siaais-
nänner der Gegenwart Rechnung, indem sie ihn zugleich zur Be—
estigung der republikanischen Gesinnungen benutzen. Daß das
ieue Nationalfest sich bereits einzubürgern beginnt, obwohl es in
iesem Jahre erst zum zweiten Mal gefeiert wird, beweisen die
illseiiigen und umfassenden Festvorbereitungen, die diesmal nicht
iur in Paris, sondern im ganzen Lande getroffen worden sind.
fFin gutes Zeichen für die Popularität des Festes erblickt die Ré—
ublique française“ in der selbstthätigen Mitwirkung der Bürger,
ie sich überall bei den Zurüstungen zum Feste zeige.