zustand der Verhältnisse gewonnene Ueberzeugung
geleitet. Geschichtlich begründet ist die Behauptung,
'aß die Selbstständigkeit des Gewerbmeisters auf⸗
jört, sobald ein ihm aufgezwungenes Innungs-
tatut die ihm selbst innewohnende Arbeits- und
Erwerbsfähigkeit in ganz bestimmte Grenzen von
Hdaus aus einschnürt. Die thätsächliche und gar nicht
iufzuhalt ende Entwickelung der gegenwärtigen Pro—
»uklion mit ihrer fortschreitenden Praxis der Ar⸗
beitstheilung aber verbietet jeden gesetzlichen Eingriff
in die Selostständigkeit der Gewerbe. Es läßt sich
für den Innungsmeister ein Privilegium, ausschließ
lich Lehrlinge zu halten, nur dann rechtfertigen,
venn man' die Gefahr laufen will, daß mit
einem Schlage alle Nicht-Fnnungsmei—
ster an den Bettelstab kommen. Denn
jeder Nicht-Innungsmeister, der außerhalb der Zunft
stehen bleiben will, hört auf, konkurrenzfähig zu
sein. Arbeitete er bis heute mit vier Gesellen und
wei Lehrlingen, so muß er morgen die Leistungen
der letzteren beiden durch einen fünften Gesellen
vollbringen lassen. Sein Nachbar, der Zünuftler
aber haͤlt sich drei Gesellen und vier Lehrlinge;
seine Probuktionskosten verhalten sich dann zu denen
des freien Meisters, wie 8:8. Dabei kann der
freie Meister nicht bestehen; denn der Nutzen, mit
dem das Handwerk heutzutage produzirt, ist wahrlich
so unbedeutend, daß Niemand eine dauernde Ver—
mehrung seiner Arbeitskosten um das Doppelte er⸗
ragen könnte.
Dazu kommen die inneren politischen Verschieden⸗
heiten in den deutschen Bundesstaaten. Bei dem
Finfluß der Kreuzzeitungs-Genossen auf das innere
Regiment in Preußen möchte der Nicht-Innungs-
neister dort zu Lande im Handumdrehen sich abge—
han sehen. Sachsen wuͤrde mit von derselben
Partie sein. Die Mittel und süddeutschen Staaten
dürften sich schönstens bedanken, diesen Krebsgang
mitzumachen. Die unausbleibliche Folge wäre, daß
der in freier Wettbewerbung stehende Gewerbemeister
in unseren südlichen Bundesstaoten, dem die preuß—
sch⸗sächsische Zunft nicht beilommen, dem sie auch
einen Preis vorschreiben könnte, — die Lieferungen
der aufgeopferten weiland freien Meister und eines
Theiles der auf bestimmte Preise eingeschworenen
Zünftler des Nordens sich verschaffen würde. Was
—
terung; aber der Schaden wäre doch angerichtet
ind so rasch nicht zu verbessern. Denn eine Durch—
ächt der- Adreßbücher von den großen Städten
ergibt, daß weitaus die Mehrheit der Ge—
werbbmeister einem Innungsverbande
nicht angehören. Ein weiterer Grund gegen die
Privilegirung der Innungsmeister ist das Verhält—
aiß der Meister in den Städten zu den Meistern
auf dem Lande, die sich auf Lehrlinge angewiesen
sehen, weil sie, um mit dem Abg. Bebel zu reden,
Gesellen nicht bezahlen können, aber auch gar nicht
finden würden; denn der Geselle geht nicht auf's
Land! Die kleinen Handwerker auf dem Lande
wären also, wenn sie nicht Bankerott machen wollen,
allesammt gezwungen, in die Innung zu gehen.
An der Verwaltung und den Beschließungen der
Innung würden sie kaum irgendwie sich betheiligen
sönnen, sie wohnen zu weit weg; sie wären fast
willenlos an die in der Stadt domizilirte Leitung
des Verbandes überliefert.
Dort also ein Conflikt der Gewerbemeister des
einen mit denen des anderen Bundesstaates; hier
eine Knebelung der Gewerbemeister auf dem Dorfe
durch die in der Stadt, und in beiden Fällen ein
vorausgehender Zusammenbruch tausender von Klein⸗
meistern, die entweder unter den starren Satzungen
—
zändigkeit, also nicht genug Licht und Luft behalten,
im fortzuleben, — oder gar nicht unter die Herr⸗
chaft des gewaltigen Zunftgeistes sich beugen, sondern
ieber gleich selbst aufgeben wollen.
Und ein gewaltiger Geist ist es, der hier mit
der starr konfessionellen und der junkerlichen Rich—⸗
jung nach Herrschaft strebt; er weiß selbst noch
nicht, wie viel er erst zu Grunde richten würde,
um alles in seinem Sinne schlichten zu mögen:
aber er hat jeht so eine Ahnung, als ob eigentlich
die ganze Großindustrie, das ganze Großkapital und
—V0
müßte. Herr Bebel kennt seine Leute, und wenn
er felbst ausruft: macht nur so fort, ihr Herren
Junker und Mucker, weckt nur immer noch mehr Haß
der Kleingewerbemeister gegen das Bestehende und
Werdende, ihr füllt nur die Reihen der Sozial⸗
Xemokratie. — so muß das wahr sein. Aber was
tönnte der Redaktion noch zur Lehre werden, wenn
ie einmal Gesetze machen darf?“
Sie rennt blind vorwärts und sieht mit offenen
lugen nicht, wie rechts und links gebaut wird, damit
zie beiden Brüder, Industrie und Handwerk, ein⸗
rächtg beisammen wohnen können, — wir meinen
den Aufbau der Berufsgenossenschaften, die einst—
veilen nur die Träger der Arbeiterversicherung sein
ollen, auf denen aber nach unserer Voraussicht
owohl die Gewerbekammern sich aufzurichten haben
ind die denn auch die Vollzugsorgane ihrer Eigen⸗
dammern sein werden.
Während sich dort die Frage des genossenschaft⸗
iichen Zusammenschlusses unter einem genügend
veitherzigen Gesichtspunkt und ohne beengende
Fesselung des Einzelnen von selbst mit lösen wird,
obald die bestimmt versprochene Ausdehnung
der Unfallversicherung auf die nicht fabrikmäßigen
Betriebe überhaupt vorgenommen wird: — tappt
eine reaktionäre Mehrheit, die sich gerade mit ihrem
Verständniß für jene großen Anlagen der Sozial⸗
politik am meisten brüstet, im Finstern umher und
astet nach zweck- und zeitwidrigen Hilfen für einen
Frwerbastand, der unter den neuzeitlichen Produk—
ionsverhältnissen zu Schaden gekommen ist, also
»och ganz gewiß nur mit völlig neuzeitlichen Ein—
ichtungen wieder seinen „goldenen Boden“ gewinnen
ann!
Ganz abgesehen davon, daß in dem Fehlen der
lothwendigen Strafbestimmung der Ackermann'sche
Untrag sich als lückenhaft erweist, hat der hohe
Zundesrath sehr recht, wenn er sich scheut, diese
Zatire auf die Sozialpolitik ohne weiteres zu unter⸗
hreiben. Mit dem, von der Dresdener Innung
iber am 4. ds. Mis. zu Ehren des Abgeordneten
ckermann veranstalteten Fackelzug wünschen wir
ehr, daß derartigen Eingriffen in die gewerbefrei—
seitlichen Gesetze für immer heimgeleuchtet sein
nöchte. (Pf. L. C.)
Pf. L. C. Ein Rückblick auf die hinter uns
iegenden Reichstagsarbeiten zeigt, daß der Zoll⸗
tarif diesmal so gut wie gar nicht alterirt wurde
uind daß derselbe die Zeit der „ehrlichen Probe“
veiter bestehen soll. So mißlich, wie man uns
jor Jahr und Tag glauben machen wollte, ist sein
Finfluß auf den deutschen Handel auch keineswegs,
a Deutschland befindet sich sogar unter den seiner
zZeit so heftig hekämpften Zollmaßnahmen des
steichskanzlers gegenwärtig entschieden auf dem Wege
es wirthschaftlichen Aufschwungs. Die Ein⸗- und
Ausfuhrwerthe vom Jahre 1882 auf 1883 ergeben
penigstens eine Steigerung der Einfuhr um
177,5 Millionen Mark (statt 126,2 Mill. Mark
m Vorjahre) und eine Ausfuhrsteigerung um
166,7 Millionen Mark (gegen 90,9 Mill. Mk. im
horjahre) den Deutsch-freisinnigen dürfte es schwer
allen auch diese Argumente zu Gunsten der Wirth—
chaftspolitik des Fürsten Bismarck ganz zu ignoriren.
pf. L. C. Auf dem Umwege über Rom suchen
sie Gegner unserer Colonialpolitik jetzt
em Reiche Schwierigkeiten zu bereiten durch die
herdächtigung der deutschen Regierung; mit der
Inschutznahme einer Reihe von deuttchen An—
edelungen in Syrien die russischen Interessen
hädigen zu wollen. Dieser alberne Schachzug, den
nan offenbar der „Partei Nasenstüber,“ wie Herr
zamberger u. Cons. jetzt im Wahlkreise Alzey⸗Bingen
cherzweise genannt werden, abgelernt hat, dürfte
ber auf keiner Seite die gewünschte Wirkung haben.
die russischen Diplomaten sind verständig genug
n der schwäbischen Colonie zu Jaffa keinen zu
irchtenden Anfang einer deutschen Nebenbuhler—
haft um die Oberherrschaft in Asien zu erblicken und
n Berlin hält man es gar nicht für der Mühe
verth auf den unsinnigen Inhalt des „Moniteur
e Rome“ überhaupt einzugehen. Gleichwohl ist
s bemerkenswerth, daß dem Anschein nach in
zyrien die nächsten colonialen Schritte Deutschlands
cfolgen werden. Andeutungen darüber fielen bereits
a der denkwürdigen letzten Büdgetcommissions-
zitzung des Reichstages und in den Berliner
Zlättern ist man mit Recht bemüht, möglichst wenig
arüber an die Oeffentlichkeit zu bringen, so lange
illes darauf Bezughabende geordnet ist.
Pf. L. C. Die auf Grund des Gesetzes vom
3. Februar d. J. von Bayern in's Leben gerufene
aatliche Hagelversicherungs-Anstalt scheint
ach kaum halbjährigem Bestehen den freudigen
zrwartungen Aller, welche an den zum Wohle der
zandwirthschaft erlassenen Bestimmungen einen mehr
ls vorübergehenden Antheil nahmen, vollauf zu
utsprechen. Nicht weniger als 8000 Landwirthe
jaben sich bereits zur Mitgliedschaft angeutis
vährend nach den amtlichen Feststellungen des ig
‚ayer. statistischen Büreaus sämmtliche in Bahen
arbeitende Privatversicherungsgesellschaften zusammen
uur 11,948 gegen Hagelschaden Versicherte aufzu.
veisen haben. So wird es denn voraussichiuich
vohl gar nicht lange mehr dauern, daß die staut
iche Anstalt den gleichartigen Privatunternehmungen
zen Rang abgelaufen hat. Ein weientlicher Vorzug
ner ersteren ist aber auch darin zu suchen, daß sie nis
nach hohen Versicherungssummen hascht, sondern ledig⸗
ich die Durchschnittsverträge zur Basis ihrer Versicher
icherungsprämien nimmt. Zur Schadenregulirung
elbst werden nur angesehene ausübende Landwirthe
us den Reihen der Distrikts und Landräthe beigezogen.
statürlich muß jetzt noch lebhafter wie vor einigen
Monaten die vorläufige Ausnahmestellung der Pfalz
zu dem Gesetze über die Hagelversicherungs-Anstal
»eklagt werden. Man wird dies umsomehr be—
»auern, da das linksrheinische Bayern erst vor
einigen Tagen an vielen Stellen vom Hagel zu
leiden hatte und der Enthusiasmus für das Privat—
hersicherungswesen bei den Landwirthen durchaus
nicht so groß ist wie bei den Herren Parlamen—
arieru der Richter'schen Couleur. Man muzs sich
ur Würdigung der Lage der Pfalz übrigens er—
nnern, daß deren Betheiligung an der staatlichen
dagelversicherungsanstalt anfänglich für den Fall in
AUussicht genommen war, daß die pfälzische Brand—
zersicherungsanstalt mit der rechtsrheinischen ver—
inigt würde. Da aber diese Vereinigung seither
ioch Schwierigkeiten entgegentraten und namentlich
nuder Kammer der Abgeordneten der Wunsch be—
tand, die Vortheile der neuen Anstalt auch den
ßfälzern baldthunlichst zugänglich zu machen, so
ourde deßhalb der Geltungstermin für hier auf
sen 1. Januar 1886 festgesetzt. Diese Bestimmung
ezwedt eben, der kgl. Brandversicherungskammer
en zur Herstellung der Vorarbeiten erforderlichen
Jeitraum zu verschaffen.
Politische Uebersicht.
Deutjsches Reich.
München, 8. Juli. Das Staatsministerium
es Innern hat unterm 30. v. M. auf die im
zahre 1883 gepflogenen Verhandlungen der Aerzte—
ammern nach Einvernahme des kal. Obermedizi⸗
ialausschusses Bescheid erlassen. Auf die Pfalz
ezieht sich Folgendes: Die Aerztekammer hat in
zZiff. 2 des Protokolls beantragt: „Es möge eine
sesetzliche Bestimmung dahin getroffen werden, daß
edem requirirten Arzte unter ullen Umständen seine
erste Hilfeleistung von der Gemeinde honorirt werden
nüsse.“ Zur Begründung dieses Antrages beruft
ich die Aerztkammer auf jene dringlichen Fälle, in
velche eine Verweigerung oder ein Aufschub
der ärztlichen Hilfe ohne Gefahr für den Kranken
nicht möglich sei. Gerade für solche dringende Fälle
ieht aber der Art. 17 Abs. 4 u 5 des Ges. über
zie öffentliche Armen- und Krankenpflege vom 29.
April 1869, die Ersatzverbindlichkeit der unterstütz
ingspflichtigen Gemeinde in klarer, ausreichender
Weise vor, weßhalb das k. Staatsministerium des
zunern ein Bedürfniß zu einer Revision des Ge⸗
etzes im Sinne des obigen Antrages zur Zeit als
gegeben nicht erachten kann.
München, 9. Juli. Die „Allgemeine Zei⸗
ung“ meldet: Der König enthob den Ministerial⸗
ath von Räsfeldt auf sein Ansuchen von der
Funktion eines stellvertrelenden Bevollmächtigten
hayerns zum Bundesrath unter Verleihuag des
Fomthurkreuzes des Verdienstordens des heiligen
Michel und ernannte den Ministerialrath von
Stengel an dessen Stelle zum stellvertretenden
Bevollmächtigten zum Bundesrath.
Berlin, 9. Juli. Der „Reichsanzeiger“
ubligiert das Unfallversicherungsgeseß
durch das Unfallversicherungsgesetz ist erreicht:
1) Die sichere Gewährung von Bezügen an die
zurch Unfall beschädigten Arbeiter, soweit sie bishet
ʒem Haftpflichtgesetz unterstanden haben, vom Be⸗
sinn der fünften Woche an ohne die so vergiften⸗
jen Prozesse und in einer Höhe, die auch von der
holksparlei als eine entsprechende anerkannt wurde.
2) Die Gewährung der gleichen Bezüge an 5
is 600 000 Bauhandwerker denen dis jetzt nicht
inmal die Ansprüche aus dem Haftpflichtgesehe zur
Seite standen, die infolge dessen bei Unfällen mit
eltenen Ausnahmen ganz leer ausgingen.