Full text: St. Ingberter Anzeiger

Amtliches Organ des königl. Amtsgerichts St. Ingbert. 
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—F —167. Samstag, 30. August 1884. 19. Jahrg. 
Ungethane Reichstagsarbeiten. 
Pf. L. C. Sehr ohne Noth wird es in einzelnen 
Otganen beklagt, daß man mit den für den neuen 
Peichztag bestimmten Vorlagen in Berlin immer 
och hinter dem Berge halte und somit die Fäden 
icht gespannt seien, an denen sich gleichsam krystal⸗ 
sitend die Volkspartikel wieder zu Parteien anein⸗ 
under schließen könnlen. Wir sagen „ohne Noth“ 
wird jene Klage laut und das mit gutem 
hrund. Man gehe nur zurück auf dem Arbeits- 
jelde des abgelaufenen Reichstages und suche die 
merledigt gebliebenen Gesetzentwürfe, Anträge und 
hetitionen zusammen, die Last wird groß genug 
mchwellen. Am allerwenigsten aber mangelt es an 
fragen, die für den Parteistandpunkt entscheidend sind. 
Ein flüchtiger Rückblick genügt, um uns von 
zer Richtigkeit dieser Behauptung zu überzeugen. 
dbenan steht ohne Zweifel in der kommenden 
Sessiin der weitere Verfolg der sozialpolitischen 
Hesetgebung. Gilt es doch die kaiserliche Botschaft 
om 17. Nov. 1881, deren Grundgedanke die po⸗ 
ibhe Forderung des Wohles der Arbeiter gewesen, 
ꝛoll und ganz zu verwirklichen. Nachdem älso die 
eften Anläufe hiezu mit dem Krankenkassen- und 
em Unfallversicherungsgesetz genommen wurden, 
vird sich Regierung und Volksvertretung nunmehi 
rielleicht mit gleichem Eifer an die gewaltigen Pro⸗ 
leme der Versorgung für die durch Aller oder 
Invalidität erwerbsunfähig werdenden Arbeiter 
deranwagen. Auf welchen Prinzipien sich eine 
diesbezügliche Vorlage aufbauen könnte, darüber 
gitiren im Augenbüͤcke nur vage Vermuthungen. 
Als wahrscheinlich aber ist anzunehmen, daß die zu 
wartenden sozialpolitischen Debatien von den So— 
aldemokraten wiederum benutzt werden dürften auf 
ie gelegentliche Aeußerung des Reichskanzlers am 
Mai 1884, über das Recht auf Arbeit, unter 
indringung eines dessen Verwirklichung bezwecken⸗ 
en Gesetzes zurückzugreifen, — Das Sozialisten⸗ 
eseß wird im Verlaufe der Session ebenfalls der 
erathung des Reichstages aufs Neue zu unterstellen 
ein, da seine Geltungsdauer bereits am 80. Sept 
86 erlischt und don der Regierung zugestandener⸗ 
raßen ja nur deßhalb von einem ausgedehnteren 
berlängerungsantrag abgesehen wurde, da die un⸗ 
heren Ausfichten der Abstimmung es rathsam er—⸗ 
geinen ließen eine Frist zu bestimmen, für die eine 
lehrheit sich eher zu entscheiden vermochte, als für 
e anfänglich beabsichtigten fünf Jahre. Vielleicht 
———— 
ete der aus der Session 188182 stammende so— 
—X Antrag auf Aufhebung sämmtlicher 
unahmegefehe (Jesuiten⸗, Internirungs⸗, Sozia⸗ 
sengeset und elsajfisder Diklaturbaraen die 
islauchen. 
deiße Kämpfe dürften ferner die kapitelreiche 
wderbeordnrung umtoben. War dies doch 
e ein Lieblingstummelplatz einzelner Parteien. 
Konservatiben wie die Deutsch- Freisinnigen 
mentlich tragen sich ja seit Jahren mit den ber 
idensten Verbesserungsvorschlägen für die gewerb⸗ 
n Hesetzgebung und pflegen debon so leicht nichts 
zeia zu legen. So wurde ein Resolution 
er Hagen um Untersagung des Geschäft⸗betriebs 
tewertfutten für Privatrechnung des Han⸗ 
Idehes der Cantinen mit Civilpersonen und 
wendung von Pferden der Militärberwaltung 
Lohnfuhrgewerbe letzthin abgelehnt, die wir 
senug auf der Bildfläche wiedererscheinen sehen 
eu. Ein anderer Wurm, der nicht siubt 
der Versuch von Konservativen und Ultramontanen: 
die obligatorischen Arbeitsbücher auf alle gewerblichen 
Arbeiter auszudehnen. Nach dem großen Wider— 
spruch, welchen die Sache vornehmlich bei den Ar—⸗ 
beitern selbst fand, wurde vom letzten Reichstag der 
Antrag im Plenum fallen gelassen. — 
Das Schichssal der Lehrlingsfrage hängt 
mmer noch von der Beschlußfassung des Bundes— 
raths über die allerdings durchberathenen gesetzl 
Bestimmungen ab. Wie nun auch der Bundesrath 
darüber denken mag, die Angelegenheit selbst und 
wvas damit ebenfalls in Zusammenhang steht, wird 
man so leicht nicht mehr von der Tagesordnung 
absetzen können. An gleicher Stelle zu rubriziren 
ist ein zur Gewerbeordnungsnovelle gestellter und 
ed. wiedererscheinender Antrag der Forischrittspartei, 
betreffend die Errichtung von Geselleninnun-— 
gen zur Förderung der gewerblichen Interessen Der— 
jenigen, welche in einem Gewerbe gegen Lohn oder 
Gehalt beschäftigt sind. — 
Mit großer Ungewißheit steht man auf anderem 
Felde, der Steuergesetzgebung, und hier zu— 
aächst: dem so oft bereits in den Vordergrund ge⸗ 
tretenen Projekt des Tabakmonopols gegenuüber. Aus 
Bründen der Unsicherheit, der Rentabilitätsberechnung, 
der mangelnden Nothwendigkeit eines so gewaltsamen 
umstürzenden Eingriffs in das Erwerbsleben, der 
Bewißheit einer großen Reihe schwerwiegender 
virthschaftlicher, sozialer und politischer Nachtheile 
ehnte der Reichsstag im Juni 1882 mit ganz über— 
vältigender Mehrheit einen darauf abzielenden Ge— 
etzentwurf ab. Es ist nun die Frage, ob die Re— 
zierung ein für alle Mal ihren desfallsigen Pläuen 
entsagt hat. Gewünscht wird dies wohl so ziemlich 
von den meisten Parteien im Lande. Weit bestimmtei 
assen sich die Konsequenzen aus der vom Reichs 
,anzler gewünschten Revision der Zuckersteuergesetz 
zebung ziehen, auch dürfte es zu einer Berathung 
der von der deutschen Reichspartei angeregten Er— 
höhung der bestehenden Brauntweinsteuer kommen. 
Was endlich die Börsensteuer betrifft, so könnte sie 
so ziemlich als beseitigt gelten, wenn man sich nicht 
des Abg. von Minnigerode's denkwürdigen Aus— 
spruch: „Sie ist unser (der Konservativen) Lieb⸗ 
lingskind — so lange noch ein Pfennig an Ma— 
trikularbeiträgen erhoben wird“, nebenbei ins Gedächt— 
niß rufen müßte. 
Unter den unabweislichen ersten Vorlagen der 
neuen Legislaturperiode dürften sich weiter die im 
Frühjahr zurückgelegten Abänderungsbestimmungen 
zum Zolltarif befinden. Die hier zur Erwägung 
gelangenden Zollerhöhungen richten sich vorzugsweise 
gegen Frankreich und die Schweiz. Die Lage der 
deutschen Nordseefischer wird ferner das Parlament 
mit besonderem Ernst ins Auge zu fassen haben. 
Am 6. Mai 1882 war es erst, daß im Haag eine 
internationale Konvention zur polizeilichen Regelung 
der Fischerei in der Nordsee außerhalb der Küsten⸗ 
zewässer vereinbart wurde und Sicherheitsvorschriften 
zur Abstellung der zahlreichen Klagen über gegen⸗ 
eitige Benachtheiligungen und Störungen im 
Fischereibetrieb in Kraft treten und gleichsam wie 
zum Hohne der Deutschen haben die englischen 
Uebergriffe gerade dort feit jener Zeit sich verdop⸗ 
pelt und verdreifacht. Bei den Etatsberathungen 
vird man der von der Militärverwaltung seiner 
Zeit geplanten Errichtung eines Militärknaben⸗ 
erziehungsinstituts mit Unteroffiziersschule in Neu— 
breisach wieder begegnen. 
Die Pieçe de resistançe wird die vielbesprochene 
abermals vom Stavbel zu lassende Postdampferfub 
ventionsvorlage wie Deutschlands kolonialpolitische 
Zukunft bilden, über die wir für diesmal keine 
erläuternden und kommentirenden Worte zu verlieren 
brauchen. Muthmaßlich außerdem hat sich der 
nächste Reichstag wiederholt zu beschäftigen mit dem 
Reliktengesetz für die Angehörigen des Reichsheeres 
und der Marine; mit dem Windthorst'schen Antrag 
auf Aufhebung des Gesetzes vom 4. Mai 1874 
über die Verhinderung der unbefugten Ausübung 
von Kirchenämtern, dessen bundesräthliche Ableh— 
nung das Zentrum nicht verschmerzen kann, mit 
dem aus dem Falle Hapke hervorgegangenen kon⸗ 
servativen Antrag der Eidesabnahme durch einen 
Religionsgenossen, mit der durchaus zu billigenden 
sozialdemokratischen Forderung der Entschädigung 
unschuldig Verhafteter und Verurtheilter, mit der 
beantragten Verweisung der politischen und Preß⸗ 
vergehen und ⸗Verbrechen vor die Schwurgerichte, 
mit dem Gesetzentwurf über den Schutz nützlicher 
Vögel, mit dem Recht zum Halten der Bienen, mit 
der event. Einrichtung von Postsparkassen und mit 
der zu gewärtigenden Vorlage eines Reichsgesetzes, 
welches das äächsische Heimathsgesetz von 1834 
dezw. dessen Handhabung mit dem Reichs-Freizügig⸗ 
keitsgesetz in Einklang zu bringen bestimmt ist. — 
Endlich wird auch die Erhöhung des kaiserlichen 
Dispositionsfonds in Erwägung zu ziehen sein, da 
der dermalige Bestand deiselben beiweitem nicht 
hinreicht, um allen billigen Anforderungen unserer 
verdienten Kriegsinbaliden gerecht zu werden. 
Die Reichhaltigkeit der zum Austrag zu brin⸗ 
genden Angelegenheiten ist, wie man sieht, eine 
außerordentlich große und die Menge der Zankäpfel, 
welche vom Gesetzgebungsbaum geschüttelt werden 
können, eine so gewaltige, daß die Behauptung, es 
sei „keine einzige konkrete gesetzgeberische Maßregel 
in Frage, an der sich die Stimmung der Wähler⸗ 
schaften erkennen ließe“, durchaus ungerechtfertigt 
erscheint. 
Politische Uebersicht. 
Eine großartige deutsch-freundliche Kundgebung 
fand vor einigen Tagen im russischen Lager bei 
Warschau statt. Am 18. August feierte das be— 
rittene Leibgardegrenadier-Regiment König Wilhelm 
von Preußen sein Jubiläum. Und diesen Anlaß 
benutzte General Gurko, jedenfalls auf einen Wink 
aus Krasnoje Selo, dem jetzigen Aufenthaltsorte 
des Kaisers Alexander III., zu einer imposanten 
militärischen Manifestation für die „russisch-deutsche 
Kriegsbrüderschaft“. Nach dem Gottesdienste und 
dem üblichen Toaste auf den Zar brachte General 
Gurko folgenden Trinkspruch aus: „Ich trinke auf 
das Wohl Sr. Maj. des Kaisers von Deutschland 
und Königs von Preußen, des erhabenen und be— 
rühmten Chefs unseres Regiments und des mäch⸗ 
sigen Bundesgenossen unseres Herrschers.“ Nach 
diesem Toaste erhob sich ein wahrer Sturm von 
hurrahrufen. Das Regiment senkte seine Fahne, 
und die anwesenden vier Militärkapellen der 3. 
Gardedivision spielten die preußische Volkshymne, 
welche Viele mitsangen. Dabei entblößten alle 
Generale, Offiziere, Beamte und Civilpersonen, wie 
auf ein Commando, ihre Köpfe. Die Geistlichkeit 
sang das Lied „Muogaja Ljeta“ („Viele Jahre“) 
für den Kaiser von Deutschland. Hierauf entsen— 
dete General Gurko an den Kaiser Wilhelm eine 
Gratulationsdepesche, und noch im Laufe desselben 
Tages traf vom Kaiser Wilhelm folgende Dank— 
devesche. deren Wortlaut einigermaßen von den