Full text: St. Ingberter Anzeiger

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Amtliches Organ des königl. Amtsgerichts St. Inabert. 
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—— 206. Donnerstag, 23. Oktober 1884. 
19. Jahrg. 
Fin Absagebrief an die Sozial⸗ 
demokratie. 
In dem 13. sächsischen Wahlkreise erlassen 1800 
Arbeiter folgenden Wahlaufruf: 
Arbeiter! 
Die Wahlen zum Reichstag stehen vor der Thür! 
duch an uns ist es, einen Vertreter zu wählen, 
et unsere Interessen und Wünsche wahrnimmt! 
der Arbeiterstand bildet das Fundament, den 
ztundpfeiler des Staatsgebäudes. Aber dieser 
ztand gilt heute fast gleichbedeutend mit der sozial⸗ 
xmokratischen Partei. Das ist edenso unnatürlich 
vie unwahr, muß aber so erscheinen, so langt 
Zleichgiltigkeit, Mangel an Ueberlegung und, sagen 
vir es offen, Furcht den besseren Theil des Ar⸗ 
zeiterssandes abhält, den Verlochungen ehrgeiziger 
Führer zu widerstehen und die eigene Meinung 
ffen und ehrlich zu bekennen. — Nicht alle Ar⸗ 
xeiter sind Sozialdemokraten! Es find ihrer Un⸗ 
aͤhlige, die noch ein Herz haben für Koͤnig und 
haterland, die nicht in jedem Arbeitgeber den sie 
wsnuzßenden Feind sehen, die von Weiber⸗ und 
vüter⸗Gemeinschaft nichts wissen wollen! — Aber 
zas freimüthige Bekennen solcher Anschauungen, 
zaz fällt heutzutage schwer! — Trotzdem müssen 
vir bekennen: „Nicht jede Regierung ist eine Feindin 
zes Arbeiters, wie nicht Jeder ein Arbeiterfreund 
st, der diesen Titel anmaßend auf der Zunge 
rägt!“ Arbeiter! Wo sind alle die von den Führern 
der Sozialdemokratie verheißenen goldenen Berge 
zeblieben? Kann ein vernünftiger Mensch im 
krnste glauben, daß das versprochene Paradies, wo 
eder für die halbe Arbeit den zehnfachen Lohn 
exnten soll, jemals erscheinen werde? Hand aufs 
herz! — Keiner glaubt's, die Führer selbst am 
ehten! — Sie rauben uns nur den Glauben an 
Bott, die Liebe zum Vaterland und zur Familie 
und die Freude an der Arbeit; unsere materielle 
dage ist durch Jene um kein Jota verbessert wor⸗ 
den! Haben sie uns höheren Lohn und weniger 
Arbeit gebracht? Haben sie uns ein gesichertes 
Altet, Schutz gegen Krankheit und Unfall, kurz, eine 
zesicherte Existenz verschafft? — Unzufriedenheit 
haben sie gesäet, unsinnige Strikes, die Tausende 
zon Familien ins Elend stürzten, haben sie ge⸗ 
chaffen und geschürt: das Sojialiftengesetz, das ihre 
Anhänger zu Bürgern 2. NKlasse degradirt hat, 
haben wir nur denen zu verdanken, die uns warnen, 
tgend etwas vom jetzigen Staate anzunehmen und 
mms, weil sie kein anderes Mittel wissen, auf die 
o bald wie möglich herbeizuführende soziale Re⸗ 
ꝛolution vertrösten! — Arbeiter! Wenn wir künftig 
Sicherheit gegen die Unfälle des Lebens, wenigstens 
ninigermaßen, haben, wenn wir geschüßt find gegen 
die Noth der Krankheit, wenn wir nicht mehr fürchten 
nüssen, daß Unglückefalle im Verufe uns unsere 
damilien als Bettler auf die Straße werfen — 
vem verdanken wir das? In erster Linie doch 
icher unserer Reichategierung, die mit Umsicht und 
Energie, den übrigen Völkern voranschreitend, die 
Bahn der sozialen Reform detreten hat! 
Blone Wahlialtik, bloßes Manbver sollen alle 
ene im Interesse des Arbeiterstandes erlassenen und 
joch zu erlassenden Geseze — Kranken- Unfall⸗ 
Altersversorgungs· Geseh — sein, so sagen Diejenigen, 
welche sich als unsere Führer aufspielen! Wer be⸗ 
eechtigt sie zu diesem Vorwurf? Wo find die Be— 
veise dafür? Hat unser ehrwürdiger Kaiser, der 
die gegen ihn gerichteten Mordkugelin mit jener be⸗ 
cühmten Botschaft vom 17. Nob. 1881 'vergalt, 
solchen Undank verdient ? Hat sein großer Kanzler, 
dem wir es doch in erster Linie verdanken, daß wir 
aberhaupt in den Reichstag wählen können, zu so 
niedrigem Verdachte Veranlassung gegeben ? Arbeiter! 
Jagen wir nicht mehr phantastischen Plänen nach, 
die sich nicht erfüllen; treiben wir nicht dem Schrecken 
einer Revolution zu, deren Ende, wie das aller 
stevolutionen, nur blutiges Elend und schwerste 
Reaktion sein würde; setzen wir uns lieber bestimmte 
und erreichbare Ziele vor, welche wir sicherer im 
Wege des Friedens und der Verständigung mit der 
stegierung und unseren Arbeitgebern erreichen werden, 
Us durch fortwährenden Hader und ewiges, un⸗ 
ruchtbares Neinsagen! 
Die Führer der Sozialdemokraten haben uns 
Steine statt Brod gegeben, sie wollen uns durch 
chwere blutige Kämpfe über Trümmer und Leichen 
zu besseren Zuständen führen! Die Reichsregierung 
iber hat energisch die Bahn der friedlichen sozialen 
Reform eingeschlagen, kommen wir ihr mit Ver⸗ 
rauen entgegen! Denn Vertrauen weckt wieder 
Vertrauen! 
Schon dämmert es im Arbeiterstandel Am 
Khein haben Tausende unserer Brüder unserem 
alien ruhmreichen Kaiser ihren Dank in einer 
Adresse dargebracht, welche im ganzen deutschen 
Reiche in den Herzen aller Arbeiter lebhaften Wider⸗ 
zall gefunden hat, und wir sind gewiß, daß eß 
zur dieser Anregung bedürfen wird, um auch in 
inseren Kreisen zahlreichen Gesinnungsgenossen den 
Muͤnd zu freimuthigem Bekennen ihrer innersten 
leberzeugung zu oͤffnen! 
Wichtige Interessen harren im neuen Reichs⸗ 
tage der Entscheidung, Interessen, welche dem Ar⸗ 
beiter vor allem nahe liegen! Es gilt dem Gebäude 
der sozialen Reform das dritte und wichtigste, aber 
auch das schwierigste Stockwerl — die Altersper⸗ 
sorgung des Arbeiters — aufzusetzen. Es gilt, 
die Regierung auf dem kühn und entschlossen be⸗ 
retenen Pfade der Kolonialpolitik, durch welche 
der deutschen Arbeit neue Absazgebiete erschlossen 
werden, kraͤftig zu unterstützen! — Dazu brauchen 
wir aber keinen Sozialdemokraten, der über seine 
vilden Zukunftzträume die Gegenwart vergißt, oder 
venn er sich mit ihr beschaftigt, sie nur durch die 
Brille des Mißtrauens und Klassenhasses sieht. 
Dazu brauchen wir auch keinen Fortschrittler und 
Freisinnigen, dessen ganze politische Weisheit nur 
in einem einzigen langweiligen „Nein“ besteht. 
Arbeiter! Wir wollen nicht mehr unsere 
Meinung und unser Gewissen knechten und uns 
don ehrgeizigen Fuhrern mißbrauchen lassen! Wer 
Sozialdemokrat ist, mag es bleiben! Wer aber. 
wvie wir, anders denkt, soll es frei und furchtlos 
hekennen! Wir wollen standhaft und mit Ernst 
unsere Interessen vertreten; dazu brauchen wir keine 
geheimen Versammlungen, wir brauchen das Licht 
Ik Tages nicht zu scheuen! — Moge unser Ruf 
veit und breit ein Echo in den Herzen unserer 
Brüder finden! Möge der Bann der Sozialdemo⸗ 
ratie gebrochen werden! Moͤge eine neue, eine 
virkliche Arbeiterpartei erstehen! 
Die Unterzeichner des Aufrufs sind Fabrikarbeiter 
nus der Umgegend von Leipzig. Man erwartet, 
zaß sich die dis jetzt vorliegenden 1500 Unter⸗ 
chriften noch erheblich vermehren werden. Wir 
iber begrüßen den Aufruf als ein erfreuliches An⸗ 
zeichen der in Arbeilerkreisen beginnenden Befreiung 
en dem Banne, in welchem sie seit länger als 
ehn Jahren befangen gewesen sind, und als ein 
Zfand dafür. daß die Versöbnung derselben mit der 
— X 
bestehenden Rechtsordnung nicht mehr lange aus⸗ 
bleiben wird. 
v 
Volitische Uebersicht. 
Deutsches Reich. 
Berlin, 21. Okt. Es wird angenommen, 
daß sich der Bundesrath in allernächster Zeit schon 
mit der braunschweigischen Erbfolgefrage werde zu 
heschäftigen haben. Die Materialien werden ge⸗ 
ammelt. Man erwartet zunächst eine Erklärung 
zes Herzogs von Cumberland und es wird sich 
zu zeigen haben, ob derselbe die Entscheidung hin⸗ 
siehen oder, wie es im allseitigen Wunsch und 
Interesse liegt, schnell herbeizuführen beabsichtigt. 
Aussland. 
Wien, 21. Olt. Herr Windthorst ist 
zestern hier eingetroffen, um sich nach Gmünden 
zum Herzog von Cumberland zu begeben. 
Bruffel, 21. Okt. Nach einem vielverbrei⸗ 
eten Gerücht sollen die Minister Malou, Jacobs 
und Woeste aus dem Kabinet scheiden, welches sich 
ilsdann unter dem Vorsitze Beernärts als Geschäfts- 
ninifterium neu bilden wärde. Es scheint sich zu 
zestätigen, daß mehrere klerikale Abgeordnete für 
Brüssel zurücktreten wollen. 
Konstantinopel, 22. Okt. Sämmtliche 
)eutsche Paschas find zu kaiserlichen Adjutanten er⸗ 
jannt, darunter der unlängst eingetroffene Marine⸗ 
Offizier, der außerdem auch noch einen hohen Orden 
»rhalten bat 
2okale und pfälzische Nachrichten. 
*St. Ingbert, 23. Olt. Die Jurück⸗ 
sührung der Gerichtskosteneinzie hung von 
den Steuerbehörden zu den Gerichten wird, wie die 
„Gerichtszeitung“ aus bester Quelle mittheilen kann, 
jum J. April in Ausführung gebracht sein. Das 
Gerichtskassenwesen wird den Amtsgerichten zuge⸗ 
theilt werden, und zwar auch an denjenigen Orten, 
m welchen sich Landgerichte befinden. Bei den 
Oberlandesgerichten werden Hauptkassen eingerichtet, 
zei denen die Buchführung für das Departemeni 
tattfindet. Die Abführung der Gelder wird zur 
Rseichsbank erfolgen, welche mit der Staatskafse in 
Abrechnung tritt. 
— Die pfalz. Bahnen haben im September 
1884 um 31,292 M. 4 Pf. mehr vereinnahmt, 
als im gleichen Monat des Vorjahrs. Die öin— 
nahme der verflossenen 9 Monate von 1884 UÜber⸗ 
stieg jene des gleichen Zeitraums von 1883 um 
152,161 M. 28 Pf. 
— Die Generalversammlung des Vereins der 
ßranntweinbrenner der Pfalz findet am 
24. d. M. zu Zweibrücken statt. Tagesordnung: 
1) Rechenschaftsbericht, 2) Vortrag über die Lage 
der Branntweinbrennerei in der Pfalz und 3) 
Wünsche und Anträge. 
AM Schnappbach, 21. Ott. Am verflossenen 
Sonntage fand im Eisel'schen Saale das von der 
dapelle Lebeth (8 Mann) ausgeführte jährliche 
donzert statt. Der Besuch war ziemlich gut und 
varen die einzelnen Musikstücke in allen ihten Thei⸗ 
len vortrefflich durchgeführt. 
Schnappbach, 22. Olt. Am vorigen 
Sonntage fand in dem Vereinslokale bei Herrn üd⸗ 
unlt Siegwardt die Generalversammlung des hiesigen 
friegervereines behufs Neuwahl des Vor— 
tandes statt. Wiedergewählt wurden Herr Zott 
als J. Präsident und Herr Heinrichsdorff als Schrift⸗ 
ührer. An Stelle des frühern II. Vräsidenten