Full text: St. Ingberter Anzeiger

St. Jugberter Anzeiger 
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Amtliches Organ des königl. Amtsgerichts St. Ingbert. 
Der „St. Ingberter Anzeiger“ erscheint wochentlich fünfmal: Am Montag, Dienstag, Donnerstag, Samstag und Sonntag; 2 mal wochentlich mit Unterhaltungs⸗ 
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22 Jahrg. 
8 24. Dienstag, 1. Februar i887. J 
Südwestdeutscher Parteitag. 
Neustadt a. d. H., 80. Januar. Eine 
großartigere Versammlung, al— 
heute im Saalbau stattgefunden, hat die freundliche 
Hdaardtstadt überhaupt noch nicht gesehen. Der große 
Saal und die geräumigen Gallerien sind überfülli. 
Begen 4500 -5000 Teilnehmer, Gäste aus ganz 
Süddeutschland und aus allen Teilen der Pfalz, 
sind anwesend; die Landbewohner sind darunter 
hesonders zahlreich vertreten. Um 324 Uhr eröffnet 
Dr. Bürklin, mit brausendem Jubel empfangen, 
dee Versammlung, heißt die Freunde willkommen 
und bittet die etwa anwesenden Andersdenkenden 
sich ihrer Gastespflicht bewußt zu sein. Dr. Bürk—⸗ 
lin berichtet sodann über ˖die Geschehnisse im Reichs⸗ 
tag und schildert die gefährdete Beschaffenheit des 
Friedens; er kennzeichnet das Verhalten der Op⸗ 
—X — 
ligung, als einer provisorischen, zugestimmt habe. 
In dritter Lesung wäre Nichts bewilligt worden. 
ARV — 
Ansehen einer unserer vornehmsten Reichsinstitutionen 
anter Führung der Majorität Windthorst⸗Richter⸗ 
Brillenberger gesunken ist. Ein entschiedenes Halt 
muß hier geboten werden. Unseren Verstand setzen 
wir nicht über in den Sachverstand weltgeschichtlich be⸗ 
deutender Männer; das ist ganz gewiß keine 
Schwäche. Moltke's Worte find keine Redensarten, 
sondern schwere Verdikte, über die glatt hinwegzu⸗ 
gehen, ein schlechtes Verdienst um das Vaterland 
ist. (Anhaltender Beifall) Furst Bismarck's Dar⸗ 
ftellung der franzoͤsischen Zustäͤnde und der Kriegs⸗ 
gefahr ist nur vom kurzen Witz der Opposition 
als Säbelgerassel und Wahlmanöver erllärt worden 
Wahlgespenster jagen die Gegner durch das Reich. 
Der deutsche Reichskanzler ist etwas mehr als poli⸗ 
lischer Kannegießer; er bettelt drei Tage um volle 
Bewilligung dessen, was er für des Vaterlandes 
—AXVV 
Da wäre ich mir wie ein Verbrecher am Vaterlande 
vorgelommen, wenn ich ihm nicht die ganze Hand 
entgegengestreckt hätte. (Stürmischer Beifall.) Die 
augenblickliche Finanzlage ist allerdings eine uner⸗ 
freuliche, aber es handelt fich um die Existenz des 
Staates. Das, was wir nach einem unglückichen 
Keriege an die Franzosen herauszahlen müßten, würde 
hundertfach und tausendfach mehr betragen, als die 
Kosten, welche die volle Bewilligung der jetzigen 
Militarvorlage erfordert. Wir treten mit gutem 
Gewissen vor die Wahler und mit Zuversicht, da 
wir die zwei in vnserem politischen Leben so schwer 
vermißten Manner Miquel und Bennigsen (bei 
Rennung dieser beiden Namen erhob sich ein wahrer 
Beifallssturm) wieder auf ihrem Posten stehen sehen 
Der Redner begrüßt sodann Herrn Miquel und 
schließt mit einem Hoch auf den Kaiser (Anhallen. 
der ftürmischer Beifall. 
Sturmisch begrußt betritt darauf Herr Miquel 
die Tribüne. Er heißt die Versammlung willlom⸗ 
men und spricht in kurzen, ergreifenden Sutzen über 
die gegenwärtige Lage. Täglich kann uns, führi 
der verehrte Redner aus, ein neuer Entscheidufigs 
kampf aufgedrungen werden. Auch im Osten fieht 
es bedrohlich aus. Als wir niedrigere Lasten tru— 
gen, haben wir Olmütz erlebt; nicht zum Krieg, 
nur um den Frieden zu erhalten, verlangte der 
daiser ein Prozent der vebblterung fuür die Wehr— 
raft. Die Oppofition war kaube fur die beredie 
sten Darlegungen der Sachverständigen. Es war 
ine förmliche Erloösung, als der Reschskamler an 
das besser unterrichtete Volk appellirte. Fraktions⸗ 
wang und innere Berbitterung können die Ab—⸗ 
ehnung des Sepitennats durch die Opposition 
kaum erklären. Der Redner erinnert daran, daß 
das erste Septennat eine doppelte Nachgiebigkeit 
der Regierung war. Damals war die Lage eine 
jriedliche; jeßt im Augenblicke der höchsten Gefahr 
jerwirft der Reichstag dieses glückliche Abkommen. 
Das verstehe wer kann. Das Volk wird sich auf 
die Seite des Reiches und seiner heute unentbehr⸗ 
lichen Führer stellen. Mußte man fich nicht sagen, 
daß selbst der Schein einer Schwächung unserer 
Nationalkraft unsere Nachbarn bedenklich beeinflussen 
werde? Die Regierung durfte um des Auslands 
und der Wahlkämpfe willen nicht nachgeben. Von 
drei Jahren käme man auf ein Jahr und lenkte 
o immer mehr die Aufmerksamkeit von den großen 
ozialen und anderen Aufgaben ab. Die Funda⸗ 
nente des Staates müssen sicher stehen. Mehr als 
je brauchen wir den inneren Frieden. Der Redner 
mahnt, aus geschichtlichea Beispielen zu entnehmen, 
wie das Reich verdarb und die Provinzen verloren 
gingen, und kommt auf die unangefochtene Stel⸗ 
uug des Centrums zum kirchenfriedlichen Staats⸗ 
mann zu sprechen. Viele Katholiken, erklärt der 
Redner, denken wie ich und schließen sich offenen 
derzens an das Vaterland an. Jetzt stehen die 
jöchsten Güter der Nation in Frage. Wir wenden 
uns an Alle mit dem Rufe: „Seid Deuische, 
Deutsche, Deutsche! (brausender Beifall). Mono⸗ 
pole, Absolutismus, neue Bedrückung der unteren 
elassen sind Schrechgespenster, erfunden von Leuten 
velche die Rechtsgesetze, die Verfassung, allen und 
eden Forischritt bekampfen. Wer hat mehr ge⸗ 
han für den europäischen Frieden als der deutsche 
steichskanzler, Fürst Bismarck. Legt einmal dir 
chwere Rustung ab! ruft man uns zu. Wir sind 
sewiß, wenn wir es thun, die Franzosen nehmen 
Arm und Reich in ihre zarten Arme. Entwickelt 
einen Steuerreformplan! heißt es. Wir antworten 
mit der Befürwortung einer höheren Branntwein⸗ 
deuer zur Entlastung der unbemittelten Volksklassen 
und zur Durchführung der sozialen Aufgaben. Wer 
anders gefführdet die liberalen Errungenschaften, als 
diejenigen, denen wir diese beklagenswerthe Ent⸗ 
sccheidung des Reichstages verdanken. Der Rednei 
chließt mit einem tiefergreifenden Apell an die 
dentsche Jugend, die deutschen Väter, die deutschen 
Soldaten von 1870, damit durch die laute Stimm 
der Vaterlandsliebe Palast und Hutte erreicht werde 
Des Kaisers Herz ist traurig, macht es wieder 
froh! Ein edles Volk muß dankbar sein können. 
Stürmischer Bei.) Die Losung muß heißen 
lür Kaiser und Reich, für Volk und Vaierland. 
5o muß ein Jeder von uns ans Werk gehen und 
das Werk wird gelingen. (Minutenlanger stürmi⸗ 
—IIC 
herige Laufbahn Boulangers kommt „Figaro“ zu 
ainer eigentlichen Charakleristik des Kricgsministers, 
des äußeren wie des inneren Menschen. Frankreich 
juchte einen Racheengel, meint der Gewährsmann 
m,Figaro“ und Boulanger rief: „Ich bin der⸗ 
enige, welcher ......* Nach derselben Quelle 
joll der General so ganz ohne Folgerichtigkeit handeln, 
daß der Verdacht gestaitet sei, er thue es abfichtlich; 
er weiche zurüc, wie in dem Streite mit dem Ge⸗ 
neral Sauffier, und heute thue er das, morgen 
das Gegentheil, kurz er sei der richtige Breton, aber 
nicht von der eigensinnigen Spielart; er streichle 
und schlage, er halie es zugleich mit den Offizieren 
wie mit den Unieroffizieren und stehe so gern auf 
—V 
aur ein Infanterist. Seine Redeweise ist kurz und 
bündig, er spricht viel und schreibt noch mehr, ver⸗ 
zißt was er geschrieben, wie die bittte Geschichte 
mit Aumale dewies; aber die Franzosen nehmen 
dergleichen nicht so genau und sind der Anficht 
khtgeiz ist nur ein Fehler, wenn der Ehrgeizige 
ine Mittelmäßigkeit ist; Bsulanger aber ist — 
Streber von Beruf. Er schuf eine bebartete Armee, 
denn ihm steht der Bart gut, weil er seine vor⸗ 
tehenden Badenknochen verhullt. Warum nicht? 
Führte Ludwig XIV. doch auch die hohen Perücken 
ein um seine Gestalt zu erhöhen und imposanter 
zu machen. 
Hinsichtlich des Aeußeren des „berühmten“ 
Mannes entwirft Figaro“ folgende, wie man ge⸗ 
tehen wird, nicht allzu schmeichelhafte Schilderung: 
Er führt zwei Gefichter, das eine, wenn er nicht 
beobachtet wird, das andere, wenn er seine Rolle 
pieltz ohne Maske ist er einfach, durgerlich, Rück 
grat gekrümmt,“frütz gealtert; in der Maske: leicht 
orgebeugt, Gang wie ein Mattose auf dem Ver⸗ 
decke, wenn der Boden schwankt, scharfer Blick. Ein 
Franzose, der lange mit ihm verkehrt hat, findet, 
daß etwas Frauenzimmerhaftes in ihm steckt: ge⸗ 
reiste Nerven, Launen, Gefallsucht, aber auch Lie⸗ 
henswürdigkeit. Wenn er will, ist der vollendete 
Soldat fertig. Oft ist er kalt, zerstreut, und 
chwingt sein Lorgnon wie ein Weihrauchfaß. Die 
Stirn ist niedrig, aber gehöckert wie bei einem 
denker, aber der Kopfist zu klein, die Stirn tritt 
zurück, es ist das richtige Raubvogelgeficht. und 
hazu paßt der Bart, der inder Mitte des Gefichts 
Jeler ist und ausfieht wie die zweifarbigen Federn, 
velchen die starle Adlernase einschließen, wie den 
Schnabel eines starken Geiers. Augen grau, ber⸗ 
chleiert, der Ausdruck nicht der eines Adlers der 
nur Sonne fliegt, sondern der eines großen Jagd⸗ 
salken, denen, halb geschlossen, der Sonnenschein 
zu grell ist, Die Hande mit einem Edelsteinringe 
und dem Trauringe geziert, find sehr mager und 
lang. 
Ueber die Zukunfisrolle Boulanger's in einem 
unftigen deutsch⸗ franzosischen Kriege außert fich 
Figaro“ nach seiner Weise, daß dann der General 
ju Rofse fleigen, die weiße Schürze des Kriegs⸗ 
ninisters einem anderen überlassen und fich selbst, 
vie einst Gambetta, zum Dictator machen werde: 
Der General, der erwartet wird, bin ich !* Bou⸗ 
anger glaubt an seinen Stern, wie das die beiden 
Rapoleone, der große Onkel und der kleine Reffe, 
wie dies Gambeita und andere belannte Personlich⸗ 
zeiten aus der neueren französischen Geschichte gethan 
jaben. Was ist aber von ihrem Lichte geblieben? 
Figaro“ fühlt das selbst und darum füllt er am 
Schlusse in den „patriotischent‘“ Ton zurück und 
cuft rotzig aus: Die französische Arme ist nicht. 
Boulanger in franzöfischer 
Beleuchtung. 
Neber den neuessen Nationalheros der Franzosen, 
den Kriegsminister Boulanger, findet sich in dem 
bekannten Pariser Blatte Figaro“ eine satyrische 
aber sonst anscheinend sehr zutreffende Charaktieristik, 
welche beweist, daß es auch jenseits der Vogesen 
Leute gibt, die den „miles gloriosus“ der Repu⸗ 
blik nach seinem wahren Werthe zu beurtheilen 
wifsen. Nach einem Ueberblick, der reich mit saty⸗ 
rischen Bemerkungen durchgesetzt ist, über die his⸗