Anterhaltungsblatt — I St. Ingberter Anzeiger.“ Fr. 14686.Sonutag, den 10. Dezember * 1871. Auf dem Throne.? Sistorische Novelle vonn Robert Fraußz.. Schon war eine Stunde über die festge⸗ setzte Zeit verstrichen und noch immer öffnete sich die Thür nicht, die zu deu Gemächern des Königs führte. Halb ungeduldig, halb voll banger Furcht, was die nächste Minute brin« gen würde, stuͤnden die Hofherren gruppen weise. leise flüsternd, beisammen. 23 Der König war wiederum übler Laune. Der kostspielige Krieg mit Frankreich brachte die Finanzen immer weiter herunter, und König Heinrich VIII. wußte, wie kein an⸗ derer Fürst, den Werth des Geldes in schätzen. Plötzlich verstummte der summende Flüster⸗ son der Versammelten; die Thüre wurde weit aufgerifsen, aber statt des Erwarteten trat der Bischof Thomas Wolsey ein und durch— schritt, sene Hände nach allen Seiten segnend ausbreitend, mit langsamem, abgemessenem Schritte das Vorzimmir. Die Hofherren beug⸗ ten zum großen Theil ehrfurchtsvoll die Kniee, denn nicht mit Unrecht erblickte man in ihm den Beherrscher des Staates, den Herrn über Leben und Tod, den allgewaltigen Rathgeber des Königs. Der Bischof war ein Mann im Anfang der vierziger Jahre, eine wohlgenährte, kräf⸗ tige Gestalt mit ziemlich gewöhnlichen Gesichts- zügen. Die etwas gebogene, scharf hervartretende Nase, das spitze Kinn und die stechenden Augen, die mit einem Blick alles übersahen, zerliehen dem Gesichte etwas Raubvogelähnliches, krotz des sanften, milden Lächelns, das ftets seine schmalen Lippen umschwebte. Eine innere Genugthuung spiegelte sich in feinen Zügen wieder, als er die Ehrenbezeugungen ˖ des äls sesten englischen Adels bemerlte, und um so eher fiel ihm der junge Mann auf, der in der Nähe des Ausgangesstand, sich aber heim Vorüberschreiten des Bischofs nicht von der Stelle rührte, sondern ihm mur eine seichte, höfliche Verbeugung machte, wie fie etwa jeder Jüngling einem älteren Manne schuldet. Der Bischof Thomas Wolsey sah den jungen, hübschen Mann mit den lebhaften Zügen und dem leckigen Haar, das wellenförmig jeine hohe, klare Ie umgab, einen Augen⸗ hlick durchdringend an. Daun schritt er mit seinem gewohnten, sanften Gefsichtsausdruchk veiter und hatte gleich darauf das Vorzimmer derlassen. . Ihr seid ein Tollkühner, Sir Charles Brandon,“ wandte sich ein ältli her Herr mit veißem Haar an den erwähnten jungen Mann. „Wißt Ihr auch, wer soeben an uns vor⸗ überschritt ?“ Der Jüngling fuhr sich mit der Hand durch das dunkle Haar und entgegnete mit einem verächtlichen Aufwerfen der Oberlippe: .Wer an uns vorüberfchritt, Sir Walterk Pah, ich werde doch den' Bischof Thomas Wolsey kennen? Den Sohn des Schlächters von Ipswich, den Hofmeistet. des Marquiß