Stl. Ingberler Anzeiger. —— — Ser St. Jugberter Anzeiger und das (2 mal wöchentlich) mit dem Haupiblatte verbundene Unterhaltungsblatt, (Sonntags milt illustrirter Bei⸗ lage), erscheint wöchentlich viermal: Dieustag, Donunerstag, Samstag und Sonntag. Der Abounementspreis beträgt vierteljährlich 1 Mark 20 Re⸗Pfg. Anzeigen werden mit 10 Pfg., von Auswärts mit 13 Pfzg. fur die viergespaltene Zeile Blattschrijt oder deren Raum. Reclamen mit 30 Pfg. pro Zeile berechnte. M. 147.. Donuerstag, den 20. Septembe 1877. — — — — Deutschlauds Gewinn beim Orieutkrieg. Es ist uns Deutschen schwer geworden, bei der Veischieden⸗ artigkeit der Ansichten, ber dem voliständigen Gegensatz, der sich in Wünschen und in der Parteinahme für Rußland einerseits und die Türkei andererseits offenbart, an jener Objektivität festzuhalten, die sich an nüchterner Beobachtung der nockten Thatsachen, vor dem endlichen Ausgang des gewaltigen Riugens am Balkan genügen lähßt. Die Ruͤssenfurcht und d'e Türkenfreundlichteit liegen tag— aglich im Kampfe, nicht blos in den Organen der deuischen Presse, sondern auch in oͤffenilichen und privaten Versanmlungen, wo die Schlachten wenigstins mit Worten mitgeschlagen wecden. Selbst die Kriegsber chterstattung leidet unter dieser einseitigen Parteinahme und gestattet dem tuhigen Beobachter kaum einen r'chtigen und un⸗ getrübten Einblick in die Entwickelung der Thatsachen. Auf der einen Seite wird der russische Czar beschuldigt, mit Verletzung aller Gesetze des Volterrechtes, unter eitlen Vorwänden einen in friedlicher Talickelung begriff nen Staat mit einem lange Zeit durch die ge⸗ zdässigsten und medrigsten Intriguen heimtückisch vorbereiteten Kriege üͤberfallen zu haben, lediglich um selbstfüchtigen Eroberungsgelüsten zu fröhnen und die Herrschaft des Slaventhums bis an die Gestade des Bosporus auszudehnen. Von der anderen Seite wird aui die detroitete Paschawirthschaft in der Türkei hingewiesen, die alles wirthschaftliche Gedeihen in den ja reich von der Natue ausgestat⸗ veten Laͤndern, welche der Herrschaft der ottomanischen Pforte unter⸗ worfen sind, unmögzlich macht, auf die unerträgliche Lage die Auf⸗ mertsamkeit gelenlt, in welcher sich die christlichen Völkerschaften be— finden, die dem Sjep'er des Padischah gehorchen müssen, und dabei hetont, daß diesen Zuständen ein Esde gemacht werden müsse. WVielleicht wücde ein schneller, enischeidender Erfolg der rus⸗ sifchen Waffen, wie er nach der Einnahme Ardahans und nach dem leichten Uebergange der russischen Arrzee über die Donau erwartet puide, dicsen Widerstreit der Meinungen schnell beseitigt und zu Bunsten der Russen entschieden haben. Nachdenr aber d'e über— raschende Wendung des Kriegsglücks zu Gunssen der türkischen Truppen sowohl auf dem asiatischen Kriegẽschauptatze als auch in Bulgarien und am Balkan den Beweis geliefert hat, daß einerseits die ru sische Kraft bedeutend überschätzt, andererseits der angeblich kranke Mann“ virl zu gering geachtet wurde, ist jene einseitige Polemit so sehr in den Vordergrund getreten, daß sie eine objet— iͤbe Betrachtung gänzlich bei Seite zu schieben droht. Und doch siemt es getade Teutschlaud, und nicht blos der deutschen Staats⸗ beitung, welchert voraussichtlich bei den dere nstigen Fricdens-Vec— handlungen, wie auch nunmehr der endliche Ausgang dieses blu⸗ gen Krieges sich gestalten möge, eine maßgebende Nolle zufallen wird, sondern auch dem deusschen Volke, äch eine nüchterde, weder durch Sympathien noch Antipathien beeinflußte Beurtheilung ↄorzubehalten, die lediglich die eigenen Interessen ins Auge faßt. Und da müssen wir denn wiederholen, bei allen Sympathien, welche der heldenmüthige Wid'erstand einer Nation gegen den An⸗ zruff des Stärkren stets ainflööͤßen muß, daß in der That die Zu— stände in den Ländern der ottomanischen Pforte, und zwar eben⸗ sowohl die politischen, als die finanziellen und wirthschaftlichen, auf die Dauer nicht haltbar waren, und daß es allerdings die Auigabe der europäischen Mächte hätte seinen üssen und noch fein mußte, die Zustände in irgend einer Wese im Interesse der Civi— lisation einer Aenderung besiehungsweise einer Besserung entgegen⸗ zuführen. Das weiß aber Jeder, daß nach einem endlichen Siege der Tuͤrken ohne Zuthun der europäischen Mächte eine solche durch— greifende Aeaderung nicht eintreten würde, da nach den unpartei⸗ ischen Berichten kompetenter Kenner der Zustände im Orient es dann am allerwenigsten den Reformtürken bvon der Schule Midhat Pa⸗ schas gelingen würde, einen ernstgemeinten Wechsel in dem altlür— lischen Regierungssystem durchsetzen. Auf der anderen Seite aber sind wir der Ansicht, daß Ruß⸗ land, welches in seinem eigenen Inneren noch gar viele Entwicke— lungsstadien durchuumachen hah, um auf die Höhe eines wirklich ivilifirten Staates zu gelangen, wie er den berechtigten Anforde⸗ ungen des neunzehnten Jahthunderts entspricht, nur im Sinne iner historischen Mession berechtigt scheinen konnte, die Türkei mit drieg zu überziehen, keineswegs aber, um feine Herrschaft an die Zlelle der türlischen zu sezen. Und schon aus diesem Grunde rauchen wir uns nicht allzusehr zu grätnen, daß es den rufsischen Urmeen nicht gelungen ist, in einem fortlaufenden Siegeszuge bis nach Konstantinopel vorzudringen und das Krenz auf die Sophien⸗ Moschee zu pflanzen. Es kann uns nur mit Genugthuung erfüllen, daß, welche Wendung das Schlachtenglück auch noch nehmen möge, Rußland seine Eroberungsziele nicht erreichen wird, die in ihren veiteren Konsequenzen aun dem deuitschen Volke hätten gefährlich verden köanen, und daß andererfeits dem Areopag der europäischen Mächte unter allen Umständen eine maßgebende Stimme bei der Irdnung der türkischen Zustände eingeraäumt sein wird, was in »em gleichen Maße schweilich der Fall gewesen sein würde, wenn stußland von einem unwandelbaren Kriegsglück begünstigt worden väre. Für Deutschland insbesöndere ist es bei allem Mitleid, welches vir für die bedauernswertheun Opfer des bluigen Krieges em⸗ pfinden, von Interesse, daß Rußland aus diesem Kriege geschwächt servorgehen wird. Wenn auders ein Ausspruch richtig ist, dea Fürst Bismarck während seines diesjährigen Aufenthalts in Kissingen Jethan haben soll „daß Europa auffünfzig Jahre hinaus zor jeder Gefahr eines russischen Krieges gesichert ei“, so theilt der deutsche Reichskanzler unsere Meinung. Man vird dem deutschen Volke fernerhin nicht mehr mit dem Gespenst iner französisch⸗ russischen Allianz bange machen können, und der stückschlag auf unser Militärbudget wird schließlich nach dieser Wendung der Dinge auch nicht ausbleiben können. So gelangen vir denn zu dem Resultat, daß schon der bisherige Verlauf des rienkalischen Keieges, wenn derselbe auch noch mancherlei Wechsel⸗ älle dacrbitten sollte, und in Folge des energischen türkischen Wider⸗ tandes unzweifelhaft eine Berlängerung erfahren wird, der deutschen Mcation eine Aera des Friedens verbürgt, welche, um wahrhaft gensreich für ihre Entwickelung zu sein, von den Regierungen und den Parteien nur zum freheitlichen Ausbau unserer verfassungs— näßigen Eintichtungen benutzt zu werden braucht. (Berl. T.) Deutsches Reich. Berlin, 17. Sept. Der für die bevorstehende Landtags⸗ ession vorbereitete Eutwurf eines Einführungsgesetzes zu den Reichs-— ustizgesetzen wird sich nicht auf die Organisation der Oberlandes— zerigte und der Landesgerichte beschränken, sondern auch alle durch die Aufhebung des Obertribunals nothwendig werdenden Auord— zuugen umfassen. Ein anderer Entwurf dieser Vorlage ist schon eit längerer Zeit ausgearbeitet und wird derselbe nunmehr behufs Botlegung an das Staatsmin ster um einer Umarbeitung unterzogen. Nusland. Wien, 18. Sept. Die „N. Fr. Pr.“ meldet aus Kon— tdantinopel vom 17. ds.: Nach dreitägigen Kämpfen wurde der Zchiptapaß voa den Russen vollständig verlassen und von den Türken »esetzt. — Die „Presse meldet aus Bulacest: Füt einen etwaigen Winterfeldzug werden bereits alle Vorbercitungen getroffen. Ja Matschin, Hirsowa und Nilopolis werden zu diesem Behyfe Ver— flegungsvorräthe angesammelt. Pest, 17. Sept. Dem ‚Pester Lloyd“ wird in einem Wiener Briefe folgende angeblich verbürgte Aeußerung des Fürsten zikmarck gemeldet: „Entweder haben wir roch vor dem Winter Ren Frieden zwischen Rußland und der Tärkei oder nach dem Winker einen allgemeinen Krieg.“ Nahh anderen Mittheilungen esselben Blattes aus Wien und London soll Deutschland nach den Borgängen bei Plewna geneigter sein, Vermitlelungevorschläge zu nachen, die vom Fuürsten Bismarck auszugehen hütten, 'weil die Beziehungen zwischen Nußland und Eagland gespannt sind