Sl. Ingberler Anzeiger. Der St. Juzberter Anzeiger und das (2mal wöheitlihh) mit dem Hiuztblatte verbundene Unterhaltun 1s50latt. (Sonntazs mit illustrirter Wei— lage) ersheint wo heatlih viermil: Dienztag, Dolnerztag, Sunstaz unr Sonntaz. Der Abonnementspreis beträagt vierleljahrlich lA 40 einschließlich Trägerlohn; durch die Post bezyJen LA G69 , einschließlich 429 Zustellzebühr. Anzeigen werden mit 10 —, von Auswärts mit 15 fur die viergespaltene Zeile Blattschrift oder deren Raum, Necla nen mit 80 pro Zeile berechnet. 2. Samstag, den A. Januar snd. Deutsches Reich. München, 31. Dez. Wegen der Gerichtsorganisation triit morgen Hr. Just zminister Dr. v. Fäustle eine Dienstreise an und begibt sich zunächst nach Nürnberg. TBerlin, 31. Dez. Die kriegsgerichtliche Untersuchung in Sachen des „Großen Kur'fürsten“ ist, wie verlautet, so weit abge⸗ schlossen, daß d'e Einsendung der Alten an den Kaiser behufs Be— stimmung über die Zusammensetzung des Kriegszerichts bevorsteht. Berhin, 1. Jan. Der zeutige Nujahrsempfang im kai— serlichen Palais, welcher ganz wie in den früheren Jahren verlief, hatte ein zahlreiches Publikum ia die Nähe des Palass zusammen⸗ geführt, welches trotz des schlechten Wetters bis nach Beendigung des Empfangs aushielt. Der Ka'ser hat, wie man hört, durch die ãußere Erscheinung und Haltung die Mitglieder der verschiedenen Deputalionen freudig überrascht und die Begrüßungen und Glück— wünsche mit fester Stimme erwidert, wenn auch bei dem Ruͤckol'ck auf die traurigen Eceignisse des abgelaufenen Jahres die Bewegungz den Monarchen ab und zu überwältigke. — Die gestrige Sylvpester⸗ nacht ist Dank den energischen Vorkehrungen der Polzei ohne er⸗ hebliche Ruhestörung verlaufen, obschon die Straßen sehr belebt waren und namentlich in den Vorstädten hier und da eine lär— monde Fröohlichkeit herrschie. Ja seiner Neujahrsbetrachtung sagt der „Pf. K.“ unker anderm: So gar schlecht, wie man's heutzutage gern macht, sind die Zeiten doch nicht. Aber unser jetziges Geschlecht hat sich aa ein gewisses Wohlleben, an allerlei Genüsse gewöhnt, welche recht wohl entbehrlich sind, die es aber nicht enbehren will. Und wenn es nun hart geht, mit der vtrminderten Ennahme diese Ge⸗ nüsse zu beschaffen, da in ist die Unzufriedenheit da: die Zeiten sind schlecht! Man sollte lieber sagen: die Menschen sind schlecht, die es nicht über sih gewinnen lömen, sih nach der Decke zu ttreden, wie es ihre Väter unker schlimmeren Verhältnissen auch geihan haben. Diese Unzufriedenheit mit dem, was man hat und haben kann, die hat wesentlich beigetragen, den aufreizjenden Lehren der Socialdemokratie bei Tausenden und aber Tausenden Eingang zu verschaffen; und glaube man ja nicht, daß diese Tausende blos in den sogenannten untern Sch'chten der Gesellschaft zu finden sind. Derselbe giftige Same erzeugt allerwärts dieselbe giftige Frucht; von der unverständigen Unzuftiedenheit und Ungenüzsamkeit sind auch unsere höheren Classen durchtränlt, und ohne daß sie sich's bewußt werden, träufelt das Gift aus ihnen hinab in die unteren Schichten. Und na hher wundern sie sich, was dort für ein Boden⸗ satz fich angesammelt hat! c Genau genommen, ist diese Unzufriedenheit, an der unser jetziges Geschlecht krankt, und das ewige Klagen über die shlechten Zeiten eine rechte Erbärmlichkeit. Sind die Zeiten wirklich schlecht, ei, dann nehme man sich zusammen und rühre sich; von selbfl werden sie nicht besser, und mit Klagen erst recht nicht. Dieset Klagen hat so ewas Unmäunliches, Weibisches an sich. Es heißt am Ende doch nichts als: ich will enichts thun, ich kann nichts thun, ein Anderer soll mir helien. Ist das eine Rede für Männer ? Und um dies traurige Gebaren zu beschönigen, sucht man sich auf die bestehenden Gesetze und Einrichtungen auszureden: die sollen an all dem Uebel schuld sein. Gerade so machen es die Socialdemokraten auch. An unseren Gesetzen und Einrichtungen mag dies und das zu bessern fein; das war in früheren Zeiten auch so, und die Leute haben doch zufriedener gelebt; vollkommene Einrichtungen giebt's überhaupt in dieser Welt nie. Aber wacht Gesetze, wie ihr wollt — wenn die Menschen sich in unüberlegte Unternehmungen einlassen, bei denen sie statt des gehoffen Gewinnes große Verluste haben, wenn sie immer nur gut essen und trinken und sich Ver— gnügen machen, aber wenig arbeiten wollen, das kaun eben einmal nicht gut gehen. Nachher, wenn man in der Paitsche sitzt, ist's freilich recht bequem, die Gejetze und Einrichtungen an uklagen, siatt in richtiger Ectenntn'ß sich selbst die Schald beizumessen und et künftig besser zu machen. Hinter'm Biertisch sagk sich's freilich recht leicht: die Gesetzt taugen nichts, so und so müßten sie sein, dann wäre mir wohl. Aber dein Nachbar hat genau dasselbe Recht wie du, und wenn du die Gesetze verlangst, wie sie dier nach de inem Geschmack sind so verlangt er sie wieder anders, so, wie sie i him in den Kram passen. Und ein Dritter wieder so und so fort ins Unendliche, und schließlich lommt ein Wirrwarr von Vorschlägen und An— pischen heraus, daß es Einem graust. Wir sehen's ja heutzutage eibhaftig vor uns, was di für ein Veitstanz aufgeführt wird: der Fine wiil dies, der Andere das, Jener wieder was Anderes Schließlich lonmen sie sih noch alle in die Haare. Im Frund jenommen ist es eine eden so große als kurzsichtige Selbstsucht, die äch da breit macht. Jeder denkt nur an sich und an sdeinen Vortheil; daß Andere auch noch neben ihm leben wollen, das fümmert iha nicht; die mögen sehen, wie sie zurecht kommen. Das Berliner Tageblatt schreibt: Nach Allem, was man hoöͤrt, vitd der Reichslanzler sein wirthschastliches Programm nur dann durchseten können, wenn er sich der Allianz der Agrarier ver sichert ind diesen ihre Getreide⸗ und Viehzölle gegeben hat. Die heutige Situat'oa zeigt recht kiar, wie richtig der vormalige Präsident des seichskanzleramtes, Delbrück, handelle, als er vor ungefähr drei Fahren die hier liebgewonnene Stellung freiwillig niederlegte; dam veitsichtigen Staatsmanne konnte es nicht entgehen, daß damals der Reichskanzler seine Pläne zur Aenderung der Zoll und Wirth⸗ chastspolitik Deutschlands zur Ausführung bringen wollte. In der That ist Delbrück, der wie wir erfahren, einigen Freunden gegenüber sich mißbilligend Uber das neue Prozramm des Reichskanzlers ausge⸗ prochen hat, vor drei Jahren rein aus sachlichen Gründen, und nicht prrsöalicher Differenzen mit dem Reichskanzler halber aus jeiner Stllang gesch'eden. Ein eigenthümliches Bilb gewährt die azracische Prisse, welche bisher nicht heftig genug gegen die Leiter der Finanze uad Handelspolitik ankämpfen konnte jetzt aber in zrster Lteihe an der Seite des Reichskanzlers zu sinden ist. Das dauptorgan der Agrarier, die,Deursche Landeszeitung“, schreibt Jeute zum Programm des Reichskanzlerz was folgt: „Da steh:s es schwarz auf weiß, dar Reichslanzler stellt sich ganz auf unsern Standpuakt. Die Kundzebung des Reichskanzlers ziebt uns die frohe Gewißheit, daß die Regierung bald ganz auf unseren Pfaden wandeln werde. Schon wiederhoit ertappten wir die „Provinzial-Korrespondenz“ auf agrarischer Fährte, jetzt sind wir si her, daß unsere Mühe und Arbeit keine vergebliche gewesen ist. Das macht uns den Schluß des Jahres zu einem recht er⸗ freulichen.“ Ein anderes agrarisches Blatt, die „Deutsche landwirihschaft⸗ liche Zitung,“ schreibt an der Sp'tze ihrer heutigen Nummer: Entweder Wiedereinführung von Zöllen auf ausländisches Ge⸗ hreide und Mehl oder vollständige Zoll und Steuerfreiheit saͤm ni⸗ licher ausländ scher Produkte. Theure Lebensmittel, hode Arbeits söͤhne, niederer Zinsfuß sind Zeichen des Verfalls der Staalen und Völker. Man kann daraus entnehmen, daß die Agrarier, also die eine dälfte der Deutsch · Konservativen des Reichsstages — die andere Halfte unter Fuhhrung des Herrn v. Wedell- Malchow huldigt be⸗ auntlich freihändlereschen Prinzipen — nur um den Preis von Betreide: und Viehzöllen mit dem Reichskanzlet gemeinsam mar⸗ chiren werden. Das macht namentlich die Gruppe Lowe und sast ämmtliche Nationalliberale, welche die Erllärung der 204 unler— Hrieben, stutzig. Charakteristisch ist und bleibl es, daß einzig und allein die agrarische Presse es ist, welche ohne jeden Vorbehalt sich sür das Prozramm des Reichskanzlrs ausspricht. Wie Berliner Blätter m'ttheilen, wird die Centrumsfraktion des Abgeordnetenh uses sofort nach dem Wiederbeginn der parla⸗ mentarischen Arbeiten darauf bestehen, daß zuvörderst der Anttaz, den Wucher betreffend, auf die Tagezordnung gesetzt werde. Daz Tentrum hält seine Position in dieser Wuchersrage für außerordent⸗ lich glüclich gewählt, da nach den ihm zulommenden Nachrichten der Reichslanzler persönlich dem Anttag auf Aufhebung der Wucher⸗ sreiheit prinzipiell nicht entgegensteht, außerdem einzelne Bundes ⸗ cegierungen, namentlich die der thüringischen Stagien einen der