Full text: St. Ingberter Anzeiger

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Anterhaltungsblatt 
St. Ingberter Anzeiger. 
NXV. G. Dienstag. den 10. Januar 
1I&. 
Lord IXyle. 
Nach dem amerikanischen Originale des 
Charles T. Manners.* 
Frei bearbeitet von Lina Freifrau v. Berlevsch. 
(Ombs.) 
rief Lord Lyle, als er das Gastzimmer betrat, 
in dem sie der Wirth unter tiefen Verbeugun— 
gen willkommen hieß, nun wollen wir in 
Genf bleiben, so lang es uns gefällt. Bestelle 
sofort ein gutes Mahl, denn jch bin hungrig 
wie eiu Wolf ?..... 
Hugo Curtright nickte und, begann alsbald 
eine lebhaste Conversation mit dem Gastgeber, 
in deren Verlauf er dem redseligen Schweizer 
mittheilte, daß sie von Berz kämen und daß 
Gepäck und Kammerdieuer folgen würden. 
Nachdem Alles angeordnet und der Secretär 
die inzwischen angewiesenen Privatgemächer 
betrat, fand er Lord Cuthbert behaglich mit 
dem neuesten Journal in der einen und einem 
Glas Wein in der andern Hand auf einem 
Dipan bingestreckkt. 32 
Nun, Hugo,“ xief er ihm entgegen, „hier 
sind die Legitimationspopiere, trinke ein Glas 
Wein und hole dann beim Consul die inzwi⸗ 
schen für uns eingelaufeiten Briefe, denn ich 
selbst bin so müde und faul wie ein Lotus⸗ 
esser.“ 
4. e 
Sahst du je zwei Wesen, deren Aeußercs 
sich ohne jedwedes verwandschaftliche Band auf— 
fallend glich? Zwei Gesichter, deren Züge 
und Färbung einander eben so ähnlich waren, 
als der Ausdruck verschieden ? 
Solche Doppelgänger blickten aus den stau⸗ 
bigen Fenstern des alten Kilwagens, der, den 
Alpenweg entlang, nach der weltbekunnten sagen⸗ 
umwobenen Stadt Genf fuhr. Es waren die 
gleichen classischen Züge, die gleichen tiefblauen 
Augen und verrieth der Mund des Einen dem 
scharfen Beobachter auch ein schwaches Zucken, 
das des Anderen festgeschlossene Lippen ver— 
schmäht hätten, so konnte doch eine Photegra⸗ 
phie ganz entschieden für Beide gelten, und sie 
waren oft genug für Zwillinge gehalten wor—⸗ 
den, obgleich des Einen Haar golbigeres Braunu, 
seine Wangen tieferes Roth zeigten. 
Es war Lord Cuthbert Lyle und sein Secre⸗ 
lär Hugo Cartright, zwei Engländer aus sehr 
berschiedenen Sphären. 
Als die Reisenden, steif und müde von der 
langen Fahrt, die Stufen zur ,goldnen Flasche 
hivaufeilten, zeigte sich die Aehnlichkeit wohl 
deutlicher als je. Selbst die Kleidung verrieth 
keinen Unterschied. Beide trugen einfache graue 
Reisekleider und über die Schulter hingen nach⸗ 
lässig schwere Plaids. 
„Gott sei Dank, daß wir eudlich da sind.“ 
„Geben Sie mir die betreffende Anwei⸗ 
sung, damit man auf dem Comulate wisse, 
daß die Briefe mir anszuliefern sind.“ 
Der junge Edelmann schlürfte nachlässig 
seinen Wein. 
„Schreib das Zeug doch selbst, Du hast 
doch oft genug für mich unterzeichnet. Oder 
hesser noch, trii gleich unter meinem Nanen 
auf, denn was nutzt unsere Aehnlichke:t, wenn 
man FJeinen Nutzen davon zieht ? Ueberhaupt, 
wenn mir ja etwas pajsfiren sollte, rathe ich 
Dir, in meine Fußtapfen zu ireten. Ich wüßte 
wahrlich Niemand auf der Welt, dem ich mein