Full text: St. Ingberter Anzeiger

„Und das Geheimniß blieb Dir bis heute 
verhüllt ?“ fragte Georg, als Barbara schwieg. 
„Hinterließ Deine Mutler nichts, was Dich 
auf eine Spur hätte führen können 7“ 
„Nur dieses Medaillon,“ entgegnete das 
Mädchen, indem es eine goldene Kapsel aus 
dem Busen zog und sie dem jungen Manne 
überreichte. „Es enthält einige Haare meiner 
Mutter, eine Locke meines Valers und ein 
kleines zierliches Billet, welches mein Vater 
vdielleicht in den ersten Tagen seiner Liebe ge⸗ 
schrieben hat.“ 
Georg öffnete die Kapsel und entfaltete 
das Billet. Es enthielt die wenigen Worte: 
„Treue bis übers Grab hinaus! Erstaunen 
und Ueberraschuug spiegelten sich in dem Blid 
des jungen Mannes, dann glitt ein zufriedenes 
Lächeln über sein Antlitz. „Laß mir diese 
Reliquie,“ sagte er, „ich werde sie Dir wieder 
geben. sobald ich von einer kleinen Reise zu⸗ 
rücktehre.“ 
„Du willst verreisen ?“ fragte Barbara 
erbleichend. 
Georg nickte. „Noch heute. Es ist eine 
Reise, von der Manches abhängt, ich darf sie 
nicht verschieben. Aengstige Dich während 
meiner Abwesenheit nicht, spätestens in drei 
Tagen bin ich zurüd.“ 
Es war nicht Mangel an Vertrauen, was 
das Herz Barbara's so hörbar pochen ließ, 
es war die Furcht, der Geliebte könne ge— 
fangen und ins Gefängniß zurückgebracht wer- 
den. Was sollte sie dann beginuen ?“ 
Georg las diesen Gedanken in den Augen 
der Geliebten. „Bin ich nach jenen drei Tagen 
nicht zurück, so warte den füuften und sechsten 
noch ab, donn aber weißt Du, wo ich bin,“ 
sagte er. „Ich werde dann in der dunklen 
Kerkerzelle Dein gedenken und die Tage zählen, 
bis ich wieder in Deinen Armen ruhen, in 
Deine Augen schauen darf. Damit Du aber 
waͤhrend dieser Zeit nicht Mangel leidest, nimm 
diese Banknoten, sie werden Dich jeder Sorge 
in d'eser Beziehung überheben. — Er öffneie 
seine Brieftasche und gab dem Mädchen einige 
Banknoten. — „Und nun Gott befohlen 
fuhr er fort, indem er die Geliebte ftürmisch 
an sich zog. „Der Himmel wird über unsre 
Liebe wachen!“ 
Schluchzend hing Barbara an seinem Halse, 
wue war für fie das Leben ohne ihn! 
Die Liebe gebieret den Haß und tödtet ihn. 
„ Helene hatte gleich nach der Abreise ihres 
Gatten sich in ihr Schlafgemach begeben. Ihr 
Enlschluß stand fest, sie entsagte dem Reichthum 
willig, und eine Freudigleit, an welche fie 
nielleicht früher bei dem Gedanken an di⸗ 
Moͤglichkeit einer solchen Entsagung nicht 
zeglaubt hätte, erfüllte ihre Seele. Sie fühlte 
jetzt, daß ihre Liebe dem Galten Alles fein, 
daß ihre Liebe ihm Alles ersetzen mußte, dafür 
aber gehörte jetzt auch der Gatte ihr, ihr 
zanz allein. Odgleich sie die Besorgung des 
Hauswesens erlernt hatie und auch so ziemlich 
verstand, war sie doch bis jetzt noch nie in 
den Fall gekommen, ihre tüeoretischen Kennt 
nisse practisch prüfen zu können. Bei den— 
Vater mußte sie die Honneurs machen, Bol 
ling wollte seine Fiau nicht in der Küche 
wissen. — Nichts ist jungen Mädchen interej⸗ 
santer, als einen Blick in das Hauswesen 
ihrer vermählten Freundinnen werfen zu 
können, nichts fessell sie mehr, als wenn fie 
das Schalten und Walten der Hausfrau am 
eigenen Heerde beobachten können. Helene hatte 
oft ihre Freundinnen beneidet und sich danach 
gesehnt, in der Küche und in den Vorraths 
'ammern wirthschaften zu können, jetzt sah 
sie diesen Wunsch erfüllt, und die Freude dar⸗ 
iber ließ sie die Bitterkeit des Entsagens ver⸗ 
zeffen. Wie alle junge Frauen, die das zwan⸗ 
zigste Jahr noch nicht überschritten haben, also 
goch im letzten Stadium der Mädchen⸗ Periode 
tehen, sah sie leicht und oberflächlich über 
ernste Verhältnisse hinweg, ihrem flüchtigen 
Blick entgingen die schwarzen Gestalten, welche 
inten in der Tiefe lauerten, bereit, sich auf 
hr Opfer zu stürzen, sobald der Augenblick 
dazu kam. Sie kannte diese schwarzen Gestal 
ten. die Sorgen mit ihrem finstern Gefolge 
noch nicht, und wußte noch nicht, wie rasch 
die Blumen des Lebens unter ihrem eisigen 
Hauche welken und sterben! — — B 
Sie war in ihr Schlafgemach gegangen, 
dort ihren Schmuck. ihre Garderobe zu 
Elftes Kapitel. 
um