Full text: St. Ingberter Anzeiger

mir diese Flucht verbietet. — Ich bin schwach 
geworden, schwach wie ein Kind,“ sitzte er 
leise hinzu. 
Helene erhob sich. Wäre die Schuld ihres 
GBatten eine andere als eine Spielschuld ge⸗ 
wesen, hätte nicht Georg selbst den Gutsbesi⸗ 
tzer zum Spiel verführt, sie würde den Schuld⸗ 
schein zurückgewiesen haben; jetzt aber wollte 
sie die Entscheidung darüber dem Gatten über⸗ 
lassen. Sie trat an's Fenster, Georg nahm 
das als ein Zeichen der Verabschiedung. 
„Leben Sie wohl,“ sagte er, „wenn in dem 
Sonnenschein der künftigen Jahre das Anden— 
ken an mich gleich einem schwarzen Schatten 
ihrer Seele vorübergleitet, dann lassen Sie 
mir Gerechtigkeit widerfahren.“ 
Er ging hinaus, noch ehe Helene, welche 
sich in der Nähe dieses Mannes beengt fühlte, 
sich auf eine Antwort besonnen hatte. Ohne 
sich aufzuhalten, begab er sich in die Gesinde—⸗ 
stube. Der Kammerdiener befand sich allein 
dort. „Du bist von heute an aus meinem 
Dienste entlassen,“ sagte Georg zu dem er— 
staunt aufschauenden Diener. „Unser Contract 
lautet auf vierwöchentliche Kündigung, hier ist 
Dein Lohn für die nächsten vier Wochen. 
Wohin willst Du Dich wenden?“ 
Der Diener nahm die Banknoten und bat 
um nähere Aufklärung über den Grund diesen 
so plötzlichen Entlasfsung. „Die Verkhältnisse 
zwingen mich dazu,“ entgegnete Georg ruhig, 
„Du wirst Dein Zeugniß oben im Zimmer 
finden und darin lesen, daß ich mit Dir zu—⸗ 
frieden war. Alsso wohin willst Du Dich 
wenden ? 
Nach Amerika,“ versetzte der Diener nach 
kurzem Nachdenken, entschlossen, „ich kann mich 
in die europäischen Verhältnisse nicht finden, 
drüben gefällt es mir besser.“ 
„Ich sah diesen Entschluß voraus, hier 
nimm das Reisegeld und sorge, daß Du 
glücklich hinüber kommst. Jetzt bitte den Herrn 
Commerzienrath Weber in meinem Namen 
um eine kurze Unterredung, packe mein Gar⸗ 
derobe in die Reisetasche und sage dem Kut⸗ 
scher, er solle anspannen, die gnädige Frau 
habe es befohlen. Hast Du dies Alles besorgt, 
dann magst Du gehen, ich halte Dich nicht 
länger.“ — 
Ein halbe Siunde später fuhren Georg 
und der Commerziexrath in derselben Richtung 
2b, in welcher am Morgen Bolling fortge— 
ritten war. 
Zwölftes Kapitel. 
Die Vergeltung. 
Bölling hatte sein Pferd nicht geschont. 
Er erreichte die Eisenbahnstation kurz vor 
Mittag und koante also den Zug, der gleich 
nach zwölf Uhr abfuhr, noch benutzen. — 
Am nächsten Morgen befand er sich in der 
Vaterstadt Helene's. Nachdem er im Gasthofe 
zefrühstückt und seinen Anzug geordnet hatte, 
zing er zu seinem Freunde Schmerling, der 
zeim Eintrit des Guisbesitzers eben im Be⸗ 
zriff stand, auszzugehen. Der verstörte Blick, 
die bleichen Wangen und die sorgenvoll gefurchte 
Stirne des jungen Mannes machten der 
daufmann stutzig, er ahnte, daß der eisig 
dauch des Schicksals plötzlich die Lebensblüthen 
)dieses jugendlichen Herzens berührt hatte. Wenr 
dem Frühling die ersten Blüthen sich erschlos⸗ 
en haben, dann kehrt oft in stiller Nacht 
der neidische Winter zurück. Er haßt die 
Blumen, leise schreitet er über die Fluren, 
uind der Morgen findet die zarten Kinder 
des Frühlings todt unter dem weißen Leichen⸗ 
uche! — 
Bölling hatte auf den Beistand Schmer⸗ 
ling's gerechnet: er sagte sich, Schmerling 
sei, wenn auch nicht reich, doch vermögend, 
dazu sein Jugendfreund und werde deshalb 
ereitwillig eine kleine Summe vorstrecken. Er 
var zum ersten Mal in die Nothwendigkeit 
zersetzt, die Freundschaft um eine Gabe an⸗ 
prechen zu müssen, er wußte noch nicht, daß 
in den meisten Fällen die Freundschaft hier 
ein Ende hat. —Ich sage in den meisten 
Fällen, weil ich Ausnahme gelten lassen will. 
Aber der Himmel weiß es, wie dünn diese 
Ausnahmen gesäet sind. — Schmerling zählte 
nicht zu ihnen. Er zuckte bedauernd die Ach— 
seln, zog die Augenbrauen fragend in die 
höhe und äußerte, daß es ihm sehr leid thue, 
die Bitte des Freundes nicht erfüllen zu 
fönnen, er habe vor einigen Tagen bedeutende 
Geschäfte abgeschlossen uad die flüssigen Fonds 
zur Deckung der Facturen benutzt. Wäre