Full text: St. Ingberter Anzeiger

Am Abend des nächsten Tages kamen sie 
an ihrem Ziele an. Der Försier ging sogleich 
zu seiner Mutter, weil er glaubte, er werde 
dort am sichersten Auskunft erhalten, ob sein 
Bruder sich in der Stadt befand. Er tras 
die alte Frau nicht zu Hause; sie war am 
Nachmittag ausgegangen und noch nicht zu⸗ 
rückgekehrt, wie die Nachbarn sagten. 
Hugo beschloß zu warten. Eine Stunde 
verstrich. Noch nie war dem Förster eine 
Stunde so lang geworden. Endlich kam die 
Mutier. Als sie in das finster glühende Auge 
des Sohnes blickte, überlief es sie eiskali. 
„Wenn an Deinen Händen das Blut 
Deines Bruders klebt, daun gehe und betrete 
die Schwelle nie wieder!“ sagte sie streng, 
mühsam nach Fassung ringend. „Ich will 
vergessen, daß Du mein Sohn warst, und den 
allgütigen Vater dort oben bitten, daß er Dir 
die Schuld verzeihe.“ 
Der Blick des Försters ward noch fin⸗ 
sterer. „Ich bin ihm noch nicht begegnet,“ 
ermiderte er mit dumpfer, tonloser Stimme, 
„aber er mag sich hüten! Ich finde ihn, er 
entflieht mir nicht.“ 
Der alten Frau fiel eine Last vom Her⸗ 
zen, sie warf die Thüre in's Schloß und zog 
den Schlüssel ab. „Bleib' hier,“ bat sie, 
warte, bis Dein erhitztes Blut sich abgekühlt 
hat. Es thut niemals gut, wenn man sich 
von seinen Leidenschaften beherrschen läßt. Laß 
Dir rathen, Hugo, noch weißt Du ja nicht, 
ob Barbara wirklich Deinem Bruder ge⸗ 
folgt ist.“ 
„Ich werde es erfahren, sobald ich ihm 
gegenüberstehe,“ fiel der Förster ihr mit eis 
ger Ruhe in's Wort. „Mich wundert nicht, 
daß Du ihn in Schutz nimmst. Du hast viel⸗ 
leicht meiner Braut noch zugeredet, ihm zu 
folgen, er war ja stets Dein Herzblättchen. 
Hast Du ihm gesagt, daß ich hier war? Ja 
gewiß, Du wirst es ihm gesagt haben, Du 
hast ihm gerathen, zu fliehen, und versperrst 
mir nun den Weg, um ihm Zeit zur Flucht 
zu geben.“ 
„Ich weiß nicht, wo er ist; wüßte ich's, 
ich würde unverzüglich zu ihm eilen, um das 
schreckliche Verbrechen zu verhüten, welches 
auf Deiner Stirne mit flammender Schrift 
geschrieben steht.“ 
Der Förster zuckte die Achseln. Er las 
in den Zügen der Mutter, daß sie die Wahr⸗ 
heit sprach, ließ aber drum die Hoffnung, 
den VBruder hier zu finden, nicht sinken. 
Noch einmal versuchte die Mutter, das 
Herz des Sohnes zu erweichen, Hugo öffnete, 
ohne ein Wort zu erwidern, das Fenster und 
stieg hinaus. Unverzüglich eilte er zum Gast⸗ 
hofe. Als er dort auf seine Frage, ob der 
Baron von Westen eingetroffen sei, die kurze 
Antwort erhielt: „Zimmer Nr. 1“, blieb er 
einen Augenblick stehen. In seinem Entschluß 
vankte er nicht, er wollte nur Athem schöp⸗ 
fen, sich auf diesen langersehnten Augenblich 
'ammeln. Sein Gang war fest und ruhig, 
als er die Treppe hinaufstieg, nur der düstere 
Blick verrieth den entfesselten Dämon, der 
triumphirend die Krallen nach dem gefangenen 
Opfer ausstreckte. 
In dem Augenblick, in welchem Hugo 
die Hand auf die Schloßkrücke legen wollte, 
wurde die Thür geöffnet und Georg trat auf 
den Corridor. Der Förster blieb ruhig, den 
Blick fest auf sein Opfer gerichtet, stehen. 
„So habe ich Dich endlich,“ sagte er mit 
dumpfer, heiserer Stimme, „jetzt entrinnst Du 
mir nicht wieder!“ 
„Was soll dieser Auftritt?“ fragte Georg 
bestürzt. 
Der Förster öffnete die Thür wieder, 
welche sein Bruder hinter sich geschlossen hatte, 
„Tritt ein!“ herrschte er rauh. 
Georg gehorchte willenlos. Er vermuthete, 
sein Bruder werde das Billet erbrochen und 
dessen Inhalt erfahren haben, dies aber der 
einzige Punkt sein, über welchen jener ihn zur 
Rechenschaft ziehen wolle. Voraussehend, daß 
es zu einer heftigen Scene kommen werde, bat 
er den Bankier, das Zimmer zu verlassen. 
„Wo ist Barbara?“ war die erste Frage 
Försters. 
Georg erbleichte. Auf diese Frage war er 
nicht vorbereitet. 
(Fortsetzung folgt.) 
Druck and Verlag von F. X. Demet in St. Ingbert.