Full text: St. Ingberter Anzeiger

Halbschlummer auf, in den sie gesunken war, 
weil die Seele nicht länger gegen den ermat— 
teten, erschöpften Körper ankämpfen konnte. 
Sie glaubte ein leises Pochen vernommen zu 
haben, rasch stand sie auf, um das Fenster 
zu öffnen und hinaus zu blicken. Sie sah sich 
in ihrer Erwartung getäuscht, Niemand stand, 
Einlaß begehrend, draußen. Und doch, je 
läuger sie nachdachte, desto deutlicher entsann 
sie sich, dreimal hatte es leise an ihr Fenster 
gepocht! 
Vielleicht halte ihr das nur geträumt, 
vielleicht auch der Wind an dem Fensterladen 
gerüttest. In solchen Augenblicken physischer 
und geistiger Ermattung gewinnt auch für die 
stärksten Naturen, welche ein Hineinragen der 
Geisterwelt in das arme Leben leugnen, das 
leinste Bedeutung. Liegt eines unserer Lieben 
in der Ferne hoffnungslos erkrankt, sehen 
mir mit jeder Stunde dem Boter entgegen, 
der uns die Trauerbotschaft überbringt, dann 
beobachten wir ängstlich Alles, was um uns 
porgeht, wir glauben in jedem welken Blatt, 
welches plötzlich vom Baume vor uns nieder⸗ 
fälli, einen Abschiedsgruß des Heimgegangenen 
zu entdecken. 
Wir prägen unsern-Gedächtnisse all' diese 
leinen an und für sich unbedeutenden Vor— 
fälle ein, und trifft es sich dann, daß gerade 
in der Stunde, in welcher der Tod die 
Augen unseres Freundes schloß, ein Luftzug 
unsere Wangen berührte, ein welkes Blatt 
dor uns hinfiel, ein banger Traum uns im 
Schlafe emporschreckte, so ist für uns ein 
Rapport mit der Geisterwelt erwiesen. Die 
Geschichte vererbt sich auf Kind und Kindes— 
kind und Niemand zeifelt an ihrer Richtigkeit. 
In der Seele Barbara's stand ein Ent— 
schluß fest. Sie wollte am nächsten Morgen 
zur Frau Bölling eilen, sie mußte Georg 
kennen, das ging aus jenen Zeilen hervor. 
Konnte sie ihr auch einen genügenden Aufschluß 
nicht geben, so wußte sie doch jedenfalls, wo⸗ 
hin Georg gereist war. 
Der Commerzienrath war noch nicht zu—⸗ 
rückgekehrt, er hatte nur einige Zeilen an 
Bölling geschrieben und ihn benachrichtigt, 
daß er, sobald die nöthigen Arrangements 
mit Helmes getroffen seien, seine Kinder auf 
zinige Tage besuchen werde. 
Helene hatte ihrem Gatten gleich nach 
dessen Zurückkunft den Inhalt ihrer« Unter— 
redung mit Georg mitgetheilt und Bölling, 
wenn es ihn auch im Stillen ärgerte, von 
einem solchen Abenteurer dupirt worden zu 
sein, konate dem jungen Manne Mitleid und 
Achtung nicht versagen. 
Am Morgen jenes Tages saßen die bei— 
den Gatten im Boudoir Helene's beim 
Frühstück. 
Helene sah träumend in den heiteren 
Frühlingsmorgen hinaus, Bölling blätterte in 
den Zeitungen, welche die Post gebracht hatte, 
olötzlich fiel sein Blick auf eine Anzeige, 
welche seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch 
nahm. Er glaubte, seinen Augen nicht trauen 
zu dürfen, aber so sehr er auch hinsehen 
mochte, der Wortlaut jener Anzeige blieb 
mmer derselbe. Er überreichte endlich das 
Blatt seiner Gattin und bat sie, jene Änzeige 
zu lesen. — Auch Helene war erstaunt. „Das 
ist ja merkwürdig!“ sagte sie. „Mein Vater 
erklärt öffentlich, er habe sowohl seinem Kas⸗ 
sierer Georg Kraus, wie dem Kassierer Peter— 
sen Unrecht gethan, Beide seien an den ihnen 
zur Last gelegten Verbrechen unschuldig.“ 
Der Gutsbesitzer schüttelte bedenklich den 
Zdopf. Ich weiß nicht, was ich davon halten 
oll,“ versetzte er. „Es ist freilich wahr, daß 
draus durch die Entlarvung der beiden 
Schufte Deinem Vater einen großen Dienst 
zeleistet hat, aber —“ 
Das Rollen eines Wagens auf dem Stein⸗ 
flaster des Hofes ließ ihn seinen Satz nicht 
ollenden. Er erhob sich, um nachzusehen, 
ver schon so früh am Morgen ihn besuchen 
vollte, aber noch ehe er die Thür des Bou⸗ 
»oirs erreicht hatte, wurde diese geöffnet und 
der Commerzienrath trat ein. In dem Auf⸗ 
reten des alten Herrn, in seiner Haltung, 
einem ganzen Wesen lag wieder die imponi⸗ 
rend stolze Haltung des reichen Bankiers, 
iber Dank den Schlägen des Schicksals und 
den bitteren Erfahrungen der letzten Tage, 
var die Anmaßung, die verletzende Gering- 
chätzung einer leutseligen Gutmüthigkeit ge⸗ 
vichen. — Er mußte Hut und Rock ablegen 
ind an dem kleinen Tische Platz nehmen. Die 
bdeiden jungen Leute ließen ihm kaum Zeit, 
eine Tasse Kaffee zu leeren, sie bestürmten ihn