Full text: St. Ingberter Anzeiger

schulpflichtige Kinder, welche jetzt eine auch 
zwei Stunden weit von der Schule entfernt 
wohnen, steht aber im nächsten Jahre das 
neue Gehbäude fertig, so beträgt die Entfernung 
kaum noch die Hälfte.“ 
„Ja, meinte der Commerzienrath, eine 
schöne Summe wird's doch kosten, Du hättest 
dafür einen Privatlehrer halten können.“ 
„Und die Armen, welche dazu nicht die 
Mittel haben?“ fragte Georg im Tone leisen 
Vorwurfs. „Ist es nicht ein gutes Werk, 
wenn wir unser Scherflein dazu beitragen, 
daß —“ 
Er konnte den Sazß nicht beenden, ein 
Bettler hatte sich unbemerkt der kleinen Gruppe 
genähert; die Kinder, welche sich vor dem 
fremden Manne fürchteten, schmiegten sich fest 
an den Vater. — Georg wandte sich um und 
zog die Börse. 
Aber entsetzt ließ er sie fallen, als er in 
das Antlitz des Mannes blickte. Auch Georgs 
Mutter hatte sich von ihrem Sitze erhoben, 
auch ihr Blick hing stier und unverwandt an 
den Zügen des Bettlers, der das Erstaunen 
und Entsetzen, welches er einflößte, nicht zu 
bemerken schien. 
„Mein Herr, gebt einem armen Manne 
ein Almosen,“ bat der Unglückliche, der, auf 
seinen Stock gestützt, das Haupt auf die Brust 
geneigt und den Blick zur Erde gerichtet, als 
ein stummes Bild des Elends dastand. „Gebt, 
gebt und wäre Euer Scherflein auch noch so 
klein, Gott möge Euch dafür segnen.“ 
Georg winkte seiner Mutter und bedeutete 
sie, zu schweigen. „Woher des Weges?“ fragte 
er. „Ihr scheint einen weiten Marsch gemacht 
zu haben.“ 
Der Bettler erhob rasch sein Haupt. Auch 
in seinen Zügen spiegelten sich Ueberraschung 
und Bestürzung. Aber Georg hatte ihm den 
Rücken gewandt, er schien sein Antlitz den 
Blicken dieses Mannes verbergen zu wollen. 
„Freilich habe ich einen weiten Weg ge⸗ 
macht,“ erwiderte er nach einer kurzen Pause, 
indem er das Haupt gedankenvoll schüttelte, 
„ich komme von Amerika.“ 
„Zieht Euch die Heimath an, daß Ihr 
jenes Land verließet ? 
Die Heimath?“ entgegnete der Bettler 
hitter. „Kann der, den die Furien eines bö⸗ 
sen Gewissens verfolgen, sagen, daß er eine 
Heimath hat? Herr, gebt mir ein Almosen 
und flieht meine Nähe, seht Ihr nicht das 
Kainszeichen auf meiner Stirne? Ich erschlug 
den Bruder und tödtete die Mutter. Gebt, 
gebt, der Abend dammert, noch vor Nacht 
muß ich in der nächsten Stadt sein.“ 
„Was wollt Ihr dort beginnen, Unglück- 
licher?“ 
„Ich finde nirgend Ruhe noch Rast. 
Mir selbst den Tod zu geben, dazu bin ich 
zu feige, über meinem Haupte hängt das Beil 
der Gerechtigkeit, ich will den Faden zer— 
schneiden, der es hält, damit das follternde 
Herz endlich zur Ruhe kommt.“ 
Die Sonne war gesunken, die Schatten 
des Abends hüllten die Fluren in dämmerndes 
Dunkel. „Bringe die Kinder in's Haus,“ bat 
Beorg seine Frau, „die Geschichte dieses 
Mannes taugt nicht für ihre Ohren. Nehmt 
Platz,“ wandte er sich nach diesen Worten zu 
ju dem Bettler, indem er auf die Bank vor 
dem Hause zeigte, „seid Ihr auch ein Verbre⸗ 
cher, so tragt Ihr doch Reue um Eure Sün⸗ 
den, deßhalb kann man Euch wohl vertrauen. 
Weßhalb erschlugt Ihr Euren Bruder? 
„Weil ich ihn haßte, unsäglich haßte,“ 
erwiderte der Bettleꝛ, ohne von dem Fleck zu 
weichen, auf welchem er stand. „Als ich die 
That begangen hatte, dachte ich nur daran, 
mich zu retten, dem Arm der Gerechtigkeit zu 
entrinnen, und es gelang mir. Aber es erging 
nir schlecht drüben und ich war nicht an den 
Hunger gewöhnt. Ich stand einsam dort, Nie⸗ 
nand schloß sich an mich an, mir war oft, 
als lese jeder auf meiner Stirne, welches 
Juchwürdige Verbrechen ich begangen hatte. 
Da warf endlich eine Krankheit mich auf das 
Lager, ich hieß sie willkommen, ich wollte 
terben, um den Furien zu entrinnen, die 
nich verfolgen. Man brachte mich ins Ho⸗ 
spital und ich genas. Ha, was ich auf dem 
Krankenbett gelitten habe, mit Worten vermag 
ichs nicht zu beschreiben. Mein ganzes ver⸗ 
gangenes Leben zog an meinem Geiste vor⸗ 
über und — Herr, laßt mich gehen, ich 
bin —“* 
„Halt,“ fiel Georg ihm in's Wort. „Wenn 
nun jener Bruder wieder vor Euch hinträte,