Full text: St. Ingberter Anzeiger

Unterhaltungsblatt 
R 
St. Ingberter Anzeiger. 
Nr. x9. Sonntag, den 30. Juli 
Dder Münzsfammlter. 
Staatsbztg.) 
Fine Novelle. 
In einem Hotel ersten Rang's der Residenz 
sttand ein Herr am Fenster und beobachtete 
den bedeckten Himmel und die dichten Regen⸗ 
ropfen, die nach seiner Vermuthung endlos zu 
verden drohten. 
Offenbar hatte er die Absicht, auszugehen; 
denn ein Hut, ein paar feine graue Glacé— 
handschuhe und ein kleiner Spazi erstock lagen 
neben ihm auf dem Tische. 
Allein nach seiner ungeduldigen Miene und 
nach den Blicken zu urtheilen, die er schnell 
nach der Thür richtete, wenn das leiseste Ge⸗ 
äusch von außen vernehmbar war, schien er 
noch Jemand zu erwarten. 
Das Wetter und die Einsamkeit fingen 
endlich an, ihn zu langweilen. Er ließ sich 
auf einen Stuhl nieder, nahm eine Zeitung 
und blätterte darin. Die Politik schien ihn 
noch mehr zu langweilen; denn er überschlug 
die Seiten und las mechanisch die vermischten 
Nachrichten; plötzlich lachte er hell auf. 
„In der That, hierin liegt Methode,“ 
sjagle er und las mit Pathos folgende 
Annonce: 
Eine penge, einsame Dame, welche jeden 
geistigen Umgang schmerzlich entbehrt, sucht 
die schriftliche Bekanntschaft eines geistig ge⸗ 
bildeten Herren zu machen, mit dem sie einen 
schriftlichen Gedankenaustausch führen kann. 
Doch die Bedingung dieses Bandes ist, daß 
dieser Herr nie nach ihrer Person, noch je 
nach ihren Verhältnissen forschen darf. Briese 
werden unter dem Namen Wera poste re- 
ztanto erbeten.“ 
„Nicht zu leugnen, diese Annonce ist eben 
o fein als lockend abgefaßt,“ fuhr der Fremde 
ächelnd fort und strich mit der schmalen, 
veißen Hand langsam seinen dunkeln, glänzen- 
den Bart. 
„Sie ist so lockend, daß ich selbst Lust 
hätte, dieser kleinen Aventiere zu schreiben! — 
„Geerbte Sünde; jedes Verbot reizt! — 
Sollte ich Antwort erhalten, so würde dieses 
leine Intermezzo mir die Tage meines un⸗ 
rreiwilligen Aufenthaltes hier, in dieser Resi⸗ 
denz der Uniformen, noch erträglich machen. 
Doch will ich diesen Scherz wirklich ausfüh— 
ꝛen, so muß ich gleich ans Werk gehen, sonst 
önnte schon die nächste Stunde mir wieder 
die Lust daran nehmen.“ 
Der Regen hatte inzwischen aufgehört, 
zie Wolken zertheilten sich, und die Sonne 
drach hervor. 
Aber der Fremde achteie jetzt nicht mehr 
auf das Wetter; er saß am Schreibtisch und 
schrieb folgende Zeilen: 
Verehrte Unbekannte! 
Die Aufforderung, welche Sie in der 
Zeitung ergehen lassen, mit einem Ihnen völlig 
iremden Herrn einen Gedankenaustausch anzu⸗ 
nüpfen, ist mir so neu, so überraschend und 
vieder so reizvoll, daß ich wohl Ihre Bekannt⸗ 
schaft machen möchte, wenn Sie geneigt wä⸗ 
ren, mich Unwissenden in Einigem zu belehren, 
wie auch einen Zweifelnden zu bekehren. 
Ich bin ein Mann, der früh seine Ideale 
berloren, ein Mann, der viele Erfahrungen,