Full text: St. Ingberter Anzeiger

Unterhaltungsblatt 
426 
St. Ingberter Anzeiger. 
Nr. 92. 
Sonnktaa, den 6. Augus. 
I-I. 
Ein böses Gewissen.* 
Novelle 
von Ewald August König. 
mich, welche meinen Untergang herbeigeführt 
haben würde, wäre nicht mein Bruder so streng 
und schroff gegen mich aufgetreten.“ 
„Er erklärte nun, es sei sein festes Wol— 
len, daß sein Sohn diese Schule durchmachen 
solle. Laut Uebereinkunft mit seinem Bruder, 
habe er ein Kapital von zwanzigtausend Tha⸗ 
lern in dem Geschäft; dieses Kapital solle 
dem Bruder verbleiben, bis das Kind groß⸗ 
jährig sei. Ich rieth ihm ab, er blieb 
aber fest. 
„Die Pflegemutier, der ich das Kind 
übergab,“ sagte er, „keunt den Namen deffel⸗ 
ben nicht, ich habe ihr für ein Jahr die be— 
dungene Kostsumme gezaählt, ist das Jahr ab⸗ 
gelaufen, so übernimmst Du die Erziehung. 
Du wirst von mir regelmäßig zu Anfang 
ines jeden Jahres eine Summe erhalten, 
velche für die Beköstigung und Erziehung des 
dindes hinreicht. Niemand, hörst Du, niemand 
darf wissen, daß mein Sohn hier zurüdge⸗ 
zlieben ist, am wenigsten mein Bruder, der 
ich durch seine Habgier verleiten lassen könnte, 
dem Kinde ein Leid zuzufügen, un das Ka— 
pital verlassen zu dürfen. Ifl mein Sohn 
zroßjährig, so übergib ihm diesen notariellen 
Akt, er enthält die Anweisung auf mein Ver— 
nbgen, welches mein Bruder sofort bei Vor— 
eigung dieses Papiers auszahlen muß. Bis 
sju diesem Zeitpunkte soll auch mein Sohn 
über seinen wahren Namen, wie über das 
Schicksal seines Vaters im Unllaren bleiben, 
ich überlasse es Dir, dafür Sorge zu 
tragen “ J 
„Wir sahen uns eine Weile schwelgend 
einander ins Auge; ich wäre gerne mit ihm 
(Fortfetzung.) 
Eines Abends, es war ein so schöner 
Maientag wie heute, trat mein lieber Herr in 
mein Haus, und ersuchte mich, ihn in ein 
Zimmer zu führen, wo wir ungestört mit 
einander plaudern könnten, er habe mir Sachen 
von höchster Wichtigkeit anzuvertrauen. Ich 
wußte, was er wollte, er hatte es mir ja 
schon vor Wochen gesagt. Er stand jetzt reise⸗ 
fertig vor mir, am nächsten Morgen mußte er 
in D. sein, um von dort mit der Eisenbahn 
nach Hamburg zu fahren, wo er sich nach 
Amerika einschiffen wollte. Er kam, um von 
mir Abschied zu nehmen und mir sein Kind 
anzuvertrauen, an welchem seine ganze Seele 
hing. Das Vübchen war kaum zwei Jahre 
alt, mitnehmen konnte er es nicht, es würde 
dort in dem unstäten Leben, welches sein 
Vater führen mußte, untergegangen sein. — 
„So lege ich sein Geschick vertrauensboll in 
Deine Hand,“ sagte mein Herr, „Du wirst 
über ihn wachen, wirst dafür sorgen, daß es 
etwas tüchtiges lernt, daß es brab und charak⸗ 
lerfest wird.“ 
„Wie sein Vater!“ sagte ich, indem ich 
ihm die Hand bot. 
„Nein, nein,“ fuhr er fort, „ich weiß 
wohl, was mir gefehlt hat, die Schule der 
Enisagung. Ich hatte es stets zu gut, deßhalb 
auch erhielt der Leichtsinn die Macht über