Full text: St. Ingberter Anzeiger

Der Bürgermeister erhob sich jetzit, und 
Goltfried hielt es für rathsam, sich vor jenem 
zu entfernen, Leise wie er gekommen war, 
schlich er die Treppe wieder hinunter; er 
athmete frei auf, als er unten vor dem 
Thor stand. 
Nach der Unterredung zu urtheilen, welche 
er so eben belauscht hatte, besaß der Bürger 
meister das Dolument noch. Der junge Mann 
zweifelte nicht daran, daß es ihm gelingen 
werde, dasselbe wieder zu erhalten. Unver⸗ 
züglich lenkte Gottfried jetzt seine Schritte 
der Straße zu, an der das Haus der Wittwe 
Heller lag. Er war durchaus nicht im Zweifel 
darüber, wen der Bürgermeister gemeint hatte, 
als er sagte, man müsse den Gefangenen ent⸗ 
fliehen lassen, er durchschaute den Zwecd dieses 
Planes und wollte die Nacht in der Stadt 
zubringen, um am nächsten Morgen seinen 
Vater warnen und ihm über jene Unterredung 
Bericht eistatten zu können. 
Ernst war erfreut, den jungen Mann zu 
sehen, er betrachtete ihn gleichsam als seinen 
Bruder, denn der Aderer hatte ihm stets so 
viel Liebe bewiesen, daß er sich zu der Familie 
dieses Mannes von Kindesbeinen an hinge⸗ 
zogen fühlen mußte. Helldau zog sich beim 
Eintritt des jungen Mannes zurück, er erkannte 
in ihm den Sohn jener Frau, von welcher er 
damals das Dokument erschwindeln wollte. 
Gottfried hatte ihn nicht bemerkt, er ließ sich 
das Abendessen, welches ihm vorgesetzt wurde, 
vortrefflich munden und erzählte dazwischen 
seine Erlebnisse seit dem Tage der Verhafturg 
des Baters. 
„Ich bin über die ganze Sache im Un— 
klaren,“ nahm Ernst das Wort, als der junge 
Landmann schwieg, „es handelt sich, wie es 
mir scheint, um ein Geheimniß, an dessen 
Enthüllung manchen Personen viel liegen muß. 
Der Rentner Krämer und der Bürgermeifter 
Eures Dorfes scheinen beide auf den Besitz 
des Dokuments erpicht zu sein —— 
„Nur mit dem Unterschiede, daß der Eine 
das Geheimniß enthüllen, der Andere es für 
immer in seinem Dunkel lassen möchte,“ fiel 
Gottfried ihm in's Wort, „ihm allein fällt 
mein Vater zum Opfer. Er will mit Dir re⸗ 
den, gehe morgen zu ihm, und siehe, ob Du 
nichts für ihn thun kaunst; ich befürchte, seine 
Sache steht schlecht, sehr schlecht.“ 
AIch befürchtete dies schon damals, als 
ich se ins Verhaftung erfuhr,“ erwiderte Ernst, 
„ich bat ihn, einen Advolaten anzunehmen, 
aber Dein Vater wollite nichts davon wissen, 
er meinte, die Advokatenkniffe könnten ihm 
eher schaden, denn nützen.“ w 
„Ich möchte einmal selbst mit diesem Ad⸗ 
vokaten reden,“ warf Goitfried ein. 
Ernst erhob sich. „Komm,“ entgegnete 
er, „ich führe Dich augenblicklich zu ihm, 
wir treffen ihn jetztsim Kreise seiner Familie, er 
wird, um so eher Muße haben, Dich anzuhören.“ 
„Wollt Ihr nicht heute Abend nach Hause 
zurück?“ fragte die Wittwe. „Eure Mutter ist 
sehr krank, Ernst war vor einigen Tagen bei 
ihr, sie verlangt nach Euch.“ 
Der junge Landmann sah eine Weile 
schweigend, nachdenklich zu Boden. „Doch,“ 
sagte er endlich entschlossen, „wührte mein 
Aufenthalt bei ihr auch nur wenige Stunden, 
die alte Frau soll sich nicht vergeblich nach 
ihrem Kinde sehnen. — Aber jetzt zum Ad- 
pokaten, die Augenblicke sind kostbar!“ 
Der Doctor Schacht erfreute sich des 
Rufs eines tüchtigen und geschickten Juristen, 
er hatte schon in manchem verwickelten Prozeß 
die Sache seines Klienten siegreich zu Ende 
geführt, und dies, wie seine Menschenfreund⸗ 
lichkeit, seine Herzensgüte und die Aufopferung, 
mit welcher er sich jeder, auch der kleinsten 
Sache unterzog, erwarben ihm die Liebe und 
Achtung aller seiner Klienten. Er hatte eben 
zu Nacht gespeist und saß, in den Inhalt 
der Tageszeit vertieft, in seiner Studirstube, 
als die beiden jungen Leute eintraten. Der 
Adrokat reichte dem Freunde die Hand und 
bat seine Gäste Platz zu nehmen. 
Got fried fatzte zu dem Juriften augen- 
blicklich Zutrauen, jede Beklemmung war von 
ihm gewichen. 
In einfacher, schmuckloser Weise berichtete 
er das Verhältniß seines Vaters zu dem Er⸗ 
mordeten, den Inhalt des Dokuments, so 
weit er selbst ihn kannte, die Ereignisse jener 
verhängnißvollen Racht, den Grund feiner 
Verhaftung und Verurtheilung, sowie jchließ⸗ 
lich die Untterredung, welche er vor wenigen 
Stunden belauscht hatte. 1ödoris. folgt.)