Full text: St. Ingberter Anzeiger

AUnterhaltungsblatt 
St. Ingberter Anzeiger. 
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Sountag, den 24. September 184. 
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—N— 
Ein böses Gewissen.* 
„Aber ich werde nicht folgen,“ versetzte 
Mathilde, von einer ihr unerklärlichen Angst 
befallen, „ich fahre in die Stadt zurück.“ 
„So werde ich Sie begleiten,“ erwiderte 
der Vagabund mit gelassener Ruhe. Kaum 
ünf Minuten von hier entfernt, hinter jenem 
Fichtenwäldchen, liegt das Landhaus, welches 
Ihr Herr Vater für den Sommer gemiethet 
hat. Sie würden sich in den Augen des 
utschers eine Blöße geben, wenn Sie so 
aahe dem Ziele wieder umkehren wollten.“ 
Er hatte die letzten Worte flüsternd ge— 
sprochen und dabei auf den Kutscher gezeigt, 
der bei seinen Pferden stand und, während 
er die Zügel ordnete, dann und wang einen 
Blick auf die Beiden warf. — 
Sei es, daß die Ruhe und Gelassenheit 
Schmelzers das Mißtrauen schwinden ließ, 
sei es, daß Mathilde der allerdings nicht un⸗ 
vahrscheinlichen Angabe, ihr Vater habe ein 
dandgut für den Sommer gemiethet, Glauben 
chenkte, genug, sie stieg aus, und in der 
nächsten Minute rollte der Wagen in rasender 
File wieder zur Stadt zurück. 
BBevor wir weiter gehen, erlauben Sie, 
daß ich in diesem Hause einen Augenbolick 
iusruhe,“ nahm der Vagabund jetzt das Wort, 
adem er die Thür der Hütte öffnete. „Das 
zanze Terrain, welches Sie hier sehen, gehört 
ju jenem Landgute, und irre ich nicht, so 
zeabsichtigt Ihr Herr Vater, diese Baracke zu 
einem Sommerpavillon einzurichten. Sie ist 
pwar etwas baufällig, aber ein frischer Anstrich 
»on Außen und eine würdige Ausstattung im 
Innern werden diese Mangel verdechen·“· 
Junge Mädchen Knd stets neugierig, und 
Novelle 
eon Ewald August König. 
(Forisetzung.) 
Mathilde wußte sich noch immer nicht zu 
erklären, weshalb der Rentner gerade diesen 
Menschen ihr zur Begleitung geschickt hatte, 
iber weit entfernt ein Vitztrauen zu hegen, 
erklärte sie sich unverzüglich bereit, zu folgen, 
als Schmelzer nach wenigen Minuten mit 
der Meldung erschien, „der Wagen warte 
unten.“ 
Der Vagabund flüsterte dem Kutscher 
leise einige Worte zu und setzte sich, nach⸗ 
dem das Mädchen eingestiegen war, auf 
den Bock. 
Der Wagen fuhr durch einige Straßen 
und Gäßchen, ließ dann die Stadt hinter sich 
und rollte über die Landstraße, bis er end— 
lich vor einem kleinen, verfallenen Hause, 
welches einsam in der Haide lag, hielt. 
Weder der Kutscher noch Schmelzer hatten 
das Rufen des Mädchens beachtet, welches, 
als derWagen die Stadt verließ, bereits bitter 
bereute, sich diesem Menschen anvertraut zu 
haben. „Wohin führt Ihr mich?“ war die 
tste Frage, welche sie an Schmelzer richtete. 
als dieser die Thür öffnete. 
„Wir sind gleich an Ort und Stelle,“ 
entgegnete der Vagabund gelassen, „da der 
utscher sich weigert, weiter zu fahren, so 
werden wir wohl die kurze Strecke zu Fuß 
zurücklegen müssen.“