Full text: St. Ingberter Anzeiger

„Wäre es nicht besser, wenn ich die Voll⸗ 
macht schon jetzt mitnühme ?“ 
„Allerdiegs, aber ich kann sie Ihnen 
nicht eher schaffen, bis ich Ernst in das Ge⸗ 
heimniß, welches ihn betrifft, eingeweiht 
habe, und dies darf ich vor der Hochzeit 
nicht thun.“ 
„Wohlan, ich bin entschlossen, Gottfried 
wird während meiner Abwesengeit hier schon 
nach dem Rechten sehen ·“· 
„Für die Dener Ihrer Abwesenheit er⸗ 
halten Sie eine angemessene Entschädigung,“ 
fiel der Advokat ihm in's Wort. „Verstehen 
Sie mich recht, nicht als Belohnung, sondern 
nur als Entschädigung dafür, daß Ihre Ar⸗ 
beitskraft für diese Zeit dem Gute entzogen 
wird; Sie selbst mözgen die Höhe derselben 
bestimmen.“ 
„So ifl's recht,“ versetzte Schulz, „Gott⸗ 
fried mag einen Arbeiter mehr in Dienst 
nehmen und nachher berechnen, was dieser 
an Lohn bezogen hat, ein Weiteres verlange 
ich nicht.“ 
.Sie werden also reisen?“ 
Ja, ich werde reisen.“ 
Der Advokat übergab dem Landmann 
eine Brieftasche. „Sie finden in diesem Por⸗ 
fefeuille außer den nöthigen Papieren drei— 
hundert Thaler in Banknoten, reisen Sie mit 
Zott und schreiben Sie mir unverzüglich, so— 
bald Sie etwas Gewisses erfahren haben. 
Sollten Sie innerhalb vierzehn Tagen nach 
Ihrer Ankunft in New-Hork die Vollmacht 
nicht erhalten, so werde ich Ihnen das Nähere 
fobald wie möglich unter der Adresse des Kon⸗ 
suls mittheilen.“ 
Die beiden Biedermänner drückten einan— 
der die Hände und schieden. 
Am nächsten Morgen ging der Advokat 
in Begleitung seines Freundes in die Woh—⸗ 
nung des Rentners, um von diesem die Er⸗ 
füllung seines Versprechens zu fordern. 
Krämer empfing den Juristen mit zuvor⸗ 
kommender Freundlichkeit, dem Doktor schien 
es, als wolle der Rentner ihn durch diese 
Liebenswürdigkeit und Höflichkeit bestechen; 
er war doppelt auf seiner Hut. 
:2 Grell kontrastirte diese Freundlichkeit mit 
dem Benehmen des reichen Mannes gegen 
Ernst. Er behandelte diesen mit herablaässen⸗ 
dem Stolz, mit einer wegwerfenden Geriug- 
schätzung, welche den jungen Mann verletzen 
und empören mußte. 
„Sie haben nur der Fürsprache des 
Herrn Doktors zu verdanten, daß ich Ihnen 
die Hand meiner Tochter gede,“ wandte er 
sich zu Ernst, nachdem die Verhanblung durch 
den Advokaten eingeleitet war. „Weder Ihre 
persönlichen Vorzüge, noch Ihre Vermögens- 
Verhältnisse würden mich zu dieser Einwilligung 
hestimmt haben. Sie bleiben nach wie vor 
mein Schuldner, denn Mathilde bringt Ihnen 
keine Mitgift mit. 
Der junge Mann biß sich auf die Lippen, 
eine solche Sprache hitte er nicht. erwartet, 
wenn er auch wußte, daß Krämer zur Ein⸗ 
will'gung in diese Heirath gezwungen worden 
war. Er wollte heftig auffahren, der Blick 
des Freundes beruhigte ihn. 
„Das Alles wird sich später finden,“ nahm 
Doltor Schacht das Wort, „ich hoffe, 
wenn Sie Ihren Schwiegersohn einmal näher 
sennen“ — 
„Ich wechsele mit meinen Ansichten und 
Entschlüssen nicht wie mit abgetragenen Klei⸗ 
dern,“ fiel der Rentner ihm scharf in's Wort, 
„kümmern wir uns überhaupt nicht um die 
Zukunft, wir haben es vorläufig noch mit 
der Gegenwart zu thun.“ Er erhob sich, off⸗ 
neie die Thür des Nebenzimmers und bat 
Mathilde, einzutreten. 
Das Mädchen war durch den Vater auf 
die Verlobung vorbereitet, es konnte sich die 
rasche Sinnesänderung desselben nicht erklaͤren 
und ahnte, daß ein Dritter, vielleicht der 
Freund ihres Geliebten, diese bewerkstelligt 
hatte. 
Die beiden jungen Leute fragten und 
gruübelten nicht, wodurch der Advokat auf den 
unbeugsamen Willen des Rentners so plötzlich 
zingewirkt hatte, sie liebten sich, das Ziel 
ihrer Wünsche war erreicht, was bedurften sie 
mehr zu ihrer Glückfeligkeit! 
Gegenüber der abstoßenden Kälte des alten 
Mannes wagiten sie es nicht, sich ganz ihrer 
Freude hinzugeben, vor dem lauernden, ftechen⸗ 
den Blick Krämers verschlossen die Herzen 
sich, wie das Auge der Taube vor dem gif— 
tigen Blick der Schlange. 
„Macht es kurz,“ sagte der Rentner, als