Full text: St. Ingberter Anzeiger

Brief, den ich vor acht Wochen empfing, hätte 
ich Dir schon längst antworten müssen, aber 
Du weißt, in Besorzung meiner Privat-⸗ 
Correfpondenz din ich etwas lässig, und dieser 
Schreibfaulheit magst Du es zuschreiben, daß 
ich erft heute zur Beantwortung komme. Seit⸗ 
dem hat sich manches hier zugetragen, was 
Dich mehr angeht, als Du vielleicht ahren 
maast. Du entsinnst Dich, daß ich Dir am 
Tage Deiner Hochzeit sagte, ein Geheimniß 
umschwebe Dich und noch wiffe ich nicht, 
ob ich Dir jenes Geheimniß enthüllen dürfe. 
Nun wohl, der Augenblick der Entscheidung 
ist gekommen ? So wisse denn, daß Dein Va⸗ 
ter und der Vater Demer Gaͤttin Brüder 
waren, daß Du nicht der Sohn derjenigen 
bist. welche Du bis heute als Deine Mutter 
anfahst, fondern das Kind Karl strämers, 
desselben Mannes, welcher im wvergangenen 
Frühjahr in der Rähe des Dorfes C. ermor⸗ 
det gefunden wurde.“ Erschüttert ließ Ernst 
den Brief sinken. 
„Er fagt die Wahrheit,“ schaltete die 
Wittwe ein, „ich war Deine Pflegemutter. 
ls Dein Vater nach Amerika auswanderte, 
Ubergab er Dich dem Ackeret Schulz, und 
dieser brachte Dich zu mir.“ 
Der junge Mann hatte rasch seine Fafsung 
wiedergefunden, von dem Arm der Gaͤttin, 
die herbeigeeilt war, umschlungen, reichte er 
der alten Frau die Hand. „Bist Du auch 
nicht meine Mutter, ich betrachte Dich noch 
immer als solche, denn Du hust mit der Liebe 
einer Mutter mich erzogen.“ — Er nahm 
den Brief wieder auf. „Du wirst nun wissen, 
daß der Ameritaner Schmelzer, derselke, wel⸗ 
cher den Bürgermeister Wetterau ermorden 
hat, auch der Mörder Deines Vaters war. 
Beider Verbrechen üderführt, wurde er zum 
Tode verurtheilt und das Urtheit gestern 
Morgen an ihm dollzogen. Ueber die Geständ⸗ 
nisse, welche er vor seinem Tode abgelegt hat, 
will ich schweigen und nur zur Beruhigung 
Deiner Gattin bemerken, daß sie das Ver— 
hängniß aufdeckten, welches den Nentner zum 
Selbstmord trieb. Er starb, wie er gelebt 
hat, unversöhnt, noch auf dem Schaffot der 
Menschheit fluchend, voll Trotz und ohne 
Reue, Dringe nicht darauf, tiefer in das 
Geheimniß zu bliden, welche es verhüllt, 
sind gerädt. — In meinem vorigen Briefe 
heilte ich Dir mit, daß am Abende Deiner 
dochzeit Dein Buchhalter Helldau mir die 
—„chatulle feines Prinzipals übergab. Keines 
er Werthpapiere, welche fie enthielt, war in 
»em Grade beschädigt, daß man es hätte ver⸗ 
oren geben müssen, mir gelang es, Dir das 
zanze Vermögen Deines Schwiegervaters zu 
ꝛrhalten. Dein Vater hat vor seiner Abreise 
tach Amerika fseinem Bruder ein Kapijal 
njon zwanzigtausend Thaler übergeben, ver—⸗ 
insbar zu vier Prozent, dieses Kapital 
ebst den Zinsen im Gesammtbatrage von 
echs und dreißigtausend Thaler ist Dein 
kigenthum. Ich gab Dir auf dasselbe bei 
Deiner Hochzeit einen Vorschuß von zwan⸗ 
‚igtausend Thaler, somit bleiben Dir noch 
echsszehntausend. Das übrige Vermögen des 
Rentners belänft sich auf achtzigtausend 
Thaler, da er ohne ein Testament zu hinter⸗ 
assen starb so mußke ich dem Gericht Anzeige 
machen und dieses hat Deiner Gattin jenes 
Vermögen zuerkannt. 
„Du siehst, die Glücksgöttin ist Dir hold, 
aber ihr Segen beschränkt sich nicht auf diese 
Summe allein. Ich bewog den Ackerer Schulz, 
nach Amerika zu reisen, um dort die Hinter⸗ 
laffenschaff Deines Balers zu erforschen und 
Dir dieselbe sicher zu stellen. Er kehrte gestern 
rüch und brachte vierzigtansend Thaler mit, 
welche Dein Vater während seiner zwanzig⸗ 
jährigen Anwefsenheit in Amerika erwarb. 
Die ganze Summe, im Gesammtbetrage von hun⸗ 
dertsechsunddreißigtausend Thlr., liegt ber einem 
hiefigen Bankhaufe zu Deiner Verfügung. Da⸗ 
mit Dich nicht die Großmuth anwandelt, mir 
rin Legat auszuwerfen, füge ich meine Rech— 
nung dei, sie beträgt einschließlich der Reife⸗ 
vsten für Schulz, sowie der Gerichtskosten 
fünfhundert und einige Thaler, welche Du 
mir gelegentlich einsenden magst. Damit wäre 
der trockene Geschäftsbericht erledigt, und 
seßt möchte ich gern noch ein Langes und 
Breites mit Dir plaudern. Aber ehrlich ge— 
tanden, weiß ich nicht, über welches Thema. 
Du schwimmst in einem Meere von Wonne 
und Glũckseligkeit und wirst wenig geneigk 
sein, meine trockenen Neuigkeitsgeschichten an⸗ 
zuhören, deßhalb eile ich zum Schluß und 
warte geduldig ab, bis ich das Alles Dire