Haben Sie ihn schon gese hen
„RNoch nicht, aber er schrieb mir in hery
lichster Weise ··
Nachdem Lady Worth sich entsernt hatte,
cilte Miß Barbara zum Schreibtisch.
„Den 6. Juni. Hoffentlich befinden Sie
fich in guter Laune, liebe Genevra, freund⸗
sich und liebevoll gegen die Welt im All
gemeinen und besonders gegen eine arm
alte Jungfer. Ich setze das voraus, weil
ich seltestfüchtig und kühn eine grohße Bitte
siellen will. Sie haaben micht gleich allen
Anderen durch zuvorkommende Liebenswür⸗
digkeit verwöhnt, und da ich mich einsam
und trübe fühle, da meine Seele fich nach
den frohen Tagen sehnt, die wir verlebten,
als Sie und Kitty hier weilten, möchte ich
bitten: kommt zu mir, verlaßt die glän⸗
zende Stadt mit all ihrer Luft und erfreut
wenigstens einige Tage lang Tante Bar⸗
dara's Her
„Ich hoffe, sie kommt,“ seufzte Miß Eves⸗
ham, froh die Epistel geendet zu sehen, um
so mehr als Kiny sie begleiten soll. Wenn
sie dann hier sins, muß Cuthbert ebenfalla
zommen, und dann finde ich hoffentlich heraus,
wng Genevra gehässig stimmt.
Hie? betreffenden Billete an Kitim und
Cuthbert wurden ebenfalls spedirt und schon
am zweiten., Tage hatte die Kriegslist Er⸗
i·
„Da seid'iht ja, ihr lieben, lieben Kin⸗
der,“ jubelie Tante Barbara, als sie fröhlich
den jungen Mädchen entgegen eiltej „ich fürch⸗
leie schon, ihr würdet nicht kommen.“
Aber Tante Barbara, wie konnten Sie
schreiben, daß Sie sich so traurig imd ver⸗
jassen fühlen,“ lachte Genevra, „ind find so
müuuter wie ein Vögelchem. Wie freue ich mich
Di der dier im Seeland zu sein!“
Jeder Moment des solgenden Tages ver⸗
oß auf goldenen Schwingen, gegen —X
octe Tunte Barbara die Mädchen in ein
entlegenes trauliches Gemach, gabe ihnen eine
Sammlung auf Elfendein gemalter Miniatur-
gemaͤlde und eine Rolle Mannscripte, die
romantische Geschichte zweiet Origimale der
Familien portraite 6
Pror Bine, Genevra Jefen Siedas Kittt
vor, während ich nach der Küche sete. Sarah
meint, fle könde die neue Speise ohne meine
allerhochste Gegenwart nicht fertig bringen.
Unterhaltet Euch gut, ich komme so bald als
möglich wieder.“
Die gute alte Dame war etwas aufgeregt
und schlug wie beschämt die Augen nieder,
die Vaädchen waren aber zu begierig auf den
neu entdeckten Schatz, um es zu beachten.
Tanttt Barbara rilte fort und blickte verlan⸗
gend die Allee enllang..
—Du lieber Himael, wie peinlich ist doch
die unschuld gste Falschhen,“ flüsterte sfie und
eilte in die Küche, wo sie jedoch bei jedem
Geräusch auffuhr und scheeßlich so schnell als
möglich die Schürze abriß, als der Bediente
hinter Lord Cuthbert Lyle die Thüre schloß.
Meiu lieber, lieber Junge!“ rief sie
herzlich und reichte ihhn beide Hände. Stimme
und Auzei sprachen solch innigen Willkomm,
daß der ernste Mann sich von diesem Gruße
wahrer Liebe, von dem sußen, rührenden
kEntgegenkommen eines weiblichen Herzens
uberwältigt fühlte.
Er küßie ihr hindlich die Hand, eine heiße
Thräne fiel auf dieselbe. —
„O Tante Barbara, Sie müssen mir
Mutter und Schwester und Freundin sein!“
Des Weibes zartes Herz überfloß bei
bem Einblick in die schmerzliche Leere seines
Innern.
„Du weißt. Cuthbert, daß ich Dich wie
eine Vutter liebe, deshalb sandte ich ja auch
nach Dir und konnte nicht erwarten bis Du
kamst. Komm' laß Dich ansehen. Ich bin so
tolz und froh.“
Cuthbert trocknete die feuchten Augen und
fragte trübe lächelad: Nun, Tanichen, wie
finden Sie mich 2 bin ich sehr verändert
„Mehr als ich dachte. Ich vermisse den
zoldnen Schimmer Deiner Haare, den ich so
sehr liehte. Diese Zwei Jahre haben Augen
und Haare dunkler gesärbt, doch was liegt
darau? Sie machten Dich auch zum Manne
und mußten selbstoerständlich das Aeußere be—
einflussen. Im Ganzen hast Du Dich ent⸗
schieden zu Deinem Vortheil verändert.“
Sie sind so lieb und gut, freundlicher
sekbst noch als Ihre Briefe. O und wie gü—⸗
nig war es, dem Wanderer diese Blatter der
Liebe folgen zu lasen“