Full text: St. Ingberter Anzeiger

Sl. Ingberler Anzeiger. 
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R 185. 1872 
æ 
Thiers und die Nationalversammlung- 
Frankreich hat wieder einen Herrn gefunden. Darnach ging 
ein tiefstes Bedürfniß. Dieser Herr ist zwar sehr alt und eine 
dynastie kann er nicht bilden; aber für ein Provisorium ist er 
zut genug. So lange er lebt, ist Frankreich geborgen. Das Ueber⸗ 
wicht des Herrn Thisers über alle rivalisirenden Parteien der 
dationalversammlung hat sich in seiner Botschaft glänzend heraus— 
estellt. Was auch die Monarchisten daran mäkeln, die Botschaft 
par ganz nach dem Herzen Frankreichs und hat seinen allgemeinen 
deifall gefunden. 
Daß die Monarchisten durch dieselbe nicht angenehm betrof⸗ 
en waren, daß sie, wenn überhaupt, jetzt noch einmal den ohn⸗ 
nuchtigen Versuch machen mußte, gegen die factische Kepublik Wi⸗ 
ersprüch zu erheben, das versteht sich von felbst. Aber was wollen 
ie gegen die offenbare Thatsache, welche die Botschaft darlegte? 
Die Republit besteht; sie ist die gesetzliche Regierung des Landes; 
was Anderes anstreben, bedeutet Revolution, und die furchtbarste 
don allen. Verlieren wir nicht die Zeit damit, die Republik zu 
zroclamiren.“ Wollen sie behaupten, daß sich Frankreich nach 
deinrich V. oder nach dem Grafen von Paris sehnt? 
Die äußerste Linke spendete in der Versammlung und in ihrer 
hresse der Botschaft Beifall, und das war das Beste, was sie 
hun konnte. Sie darf sich doch vor dem Lande nicht dazu be— 
lennen, daß der Tadel, den Thiers gegen gewisse demagogische 
Fepublikaner schleuderte, auf sie passe, daß sie die „ruhelose“ Re— 
zublik anstrebe. 
Gewiß, die Botschaft entspricht den Meinungen und Neigun⸗ 
gen der unermeßlichen Mehrzahl der Franzosen. Sie wollen „Ruhe 
dicherheit, Arbeit,“ sie wünschen weder eine monarchische noch eine 
republikanische Agitatton, Jede Parteibewegung in der National⸗ 
versammlung, die diesem allgemeinen Verlangen entgegentrete oder 
die eine wünschenswerthe Befestigung der gegebenen Zustände 
sintertreiben wollte, würde ihren Urhebern gefährlich werden und 
Thiers Ansehen nur vergrößern. Die kleinen Manövers der 
Fraltionen, die in diesen ersten Tagen der Sitzung spielen, führen 
nur zu einem glänzenden Vertrauensvotum für Thiers hin. 
ks ist nicht zu zweifeln, daß aus den Verhandlungen der nächsten 
Vochen über die Form, wie die Republik eine größere conservative 
draft gewinnen könne, die Präsidentengewalt stark und Vertrauen 
irweckend hervorgehen werde. 
Solchen Gesinnungen der Franzosen entsprechen die Thatsa⸗ 
hen, welche Hr. Thier 8 anzusühren wußte. Frankreich beweist 
me wunderbare Regenerationskraft auf dem Gebiete der Frine⸗ 
densarbeit. Die Botschaft konnte Zahlen vorlegen, die den 
deweis führen, sdaß der indusicielle und Handelsverlehr des Lan⸗ 
)es bereits wieder zu einer Höhe gestiegen ist, die er in den ge⸗— 
xeihlichsten Friedenszeiten vorher nicht erreicht hat. Ueber diese 
dalsache muß man erstaunen und Frankreich Glück wünschen. 
os geht daraus hervor, daß die Nation, statt müßigen politischen 
hrübeleien über innere Parteifragen oder Vergeltung nach außen 
nachzuhängen, mit aller, Energie wieder ihre friedliche Thätigkeit 
tufgenommen hat, und daß sie nichts eifriger wünscht, als darin 
ungestört zu bleiben. 
Jedenfalls war das ein dankbareres Capitel für den Verfasser 
et Botschaft, als, was wir früher von ihm hörten über die Fort⸗ 
chritte der franzoͤsischen Armee. Denn was er von ihrem Geiste 
und ihrer Verfassung rühmte, wird durch Manches in Frage gestellt, 
das über den massenhaften Abschied der Officiere verlaulet. 
Vielleicht ist es dem Präsidenten der französischen Republik, 
is er sich die stattlichen Ziffern über die Einfuhren und Aus— 
uhren Frankreichs waäͤhrend der ersten neun Monagte dieses Jahres 
ammenstellen ließ, nicht entgangen, daß diese Handelsbewegung, 
laͤnzender als 1869, stastgefunden unter der Herrschaft des han— 
velspolitischen Systems, das seit 1860 noch besteht, und noch nicht 
uch Rohstoff Zölle und abgeänderte Handelsverträge durchbrochen 
Wenn das neue handeispolitische System des Herrn Thiers, 
dessen Gunsten leider zuerst England ihm die Hand geceicht 
hatte, sich wird Bahn gebrochen haben, dürfte das rasche Wieder⸗ 
wachsen von Einfuhr und Ausfuhr Frankreichs doch ernsteren 
Schwierigkeiten begegnen. 
Ein interessantes Factum aus der Botschaft ist die enorme 
Mehr⸗Einfuhr von Baumwollen ⸗Geweben nach Frankreich. Dies 
tark erhöhte Quautum zu einem Mehr⸗Werth von 56 Millionen 
Francs stamm: fast durchweg aus Elsaß-Lothringen, das seine 
ausgezeichneten Baumwollen⸗Druckwaaren für 1872 noch zu einem 
ermäßigten Zolle nach Frankreich einführen durfte. Frankreich wird 
auch ferner diese elsaß⸗lothringenschen Fabrikate nicht entbehren 
können, und es thut nur den eignen Consumenten einen Gefallen, 
wenn es, wie in der Nationalversammlung beantragt und für 
dringlich erklärt worden, die Zollbegünstigung für Elsaß-Lothringen 
wieder um ein halbes Jahr verlängern sollte. 
I Deutsches Reich. 
Mäünchen, 19. Nop. Das Gemeindewesen in Bayern 
zliedert sich nach drei Stufen; die Ortsgemeinde, welche nur lo⸗ 
kale Interessen zu verwalten hat, die Distriktsgemeinde, welche mit 
dem Umfange der staatlichen Bezirksämter zusammenfällt und end⸗ 
lich die Kceisgemeinde, die von den Bewohnern je eines Regie— 
rungskreises gebildet und mit den Angelegenheiten befaßt wird, 
welche als Interessen der ganzen Provinz erscheinen. Als Organ 
derselben erscheinen die Landrälhe, die sich alljährlich einmal ver— 
sammeln und deren Einberufung so eben für den 2. December 
verfügt worden ist. Es ist allerdings richtig, daß die Landräthe 
sehr abhängig von der Kuratel der Regierung sind und daß ihre 
Thätigkeit einen ziemlichen formellen Charalter trägt; aber ander— 
seits fällt doch das moralische Gewicht, daß den Beschlüssen der- 
selben innewohnt, merkbar in die Wagschale. Denn die Regierang 
sleht einer Versammlung gegenüber, die nach ihrer Zusammen⸗ 
setzung beinahe ein parlamentarisches Gepräge trägt und fast nur 
Personlichkeiten vereinigt, die durch ihre bürgerliche Stellung oder 
ihren Besitz Autorität genießen. Es ist wünschenswerth, daß im 
gegenwärtigen Augenblick, wo die innere Lage des Landes sich 
anf's äußerste zugespitzt hat, den Vertretern der 8 Regierungskreise 
Gelegenheit gegeben wird, sich über die Lage auszusprechen und 
an der Verbesserung oder doch der Klarstellung mitzuwirken. 
Mainz, 21. Nov. Gleichwie den Schülern des Gymna— 
siums wurde auch denjenigen der Realschule heute eröffnet, duß die 
Betheiligung an religiösen Vereinen, Congregationen u. s. w. im 
Interesse der Schule verboten sei und ihnen streng eingeschärft, 
viernach sich zu verhalten. 
Berlhin. Die österreichisch- ungarischen Delegirten für die 
soziale Conferenz werden hier sehr zuvorkummend behandelt. Die⸗ 
jelben sind vom König zur Tafel gezogen worden und der Han- 
delsminister, Graf Itzenplitz, veranstaltete zu ihren Ehren ein 
Diner, welchem die Ministe Eulenbarg, Leonhardi, der 
Ober-Regierungsrath Wagener ⁊c. beiwohnten. 
Die „Mgd. Zig.“ vernimmt, Fürst Bismarck werde vor 
Weihnachten zurückkehren. Ein längeres Fernbleiben sei auch ur— 
sprünglich nicht beabsichtigt gewesen. Der Fürst ist übrigens bereits 
wieder vollständig hergestellt und darf das Zimmer verlafsen. 
Die Officiösen schreiben; Wenn man die Welt glauben ma⸗ 
hen will, daß die Regierung auf eine Umkehr des Herrenhauses 
hoffe, so thut mun das gegen alle Logik. Der Regierung kann es 
nach den gemachten Erfahrungen nicht einfallen, mit dem Herren— 
jause auf dem alten Boden sortzuverhandeln, weil sie, abgesehen 
yvon dem Urtheil der fceisinnigen Welt, jede Reform in Frage 
tellen würde, die sie beabsichtigt. 
In dem Regierungsbezirke Magdeburg sind jetzt 81 
Lehrerstellen vacant. Da nur 25 Schulamtscandidaten in Zugang 
gekommen, so müssen 56 Stellen unbesetzt bleiben. 
Der „Mgd. Zig.“ zufolge würde künftig wahrscheinlich, wie 
bei Berechnung der Telegraphengebühren, auch für Erhebung des 
Postporto die vereirfachte und billige Zonentaxe in Anwendung