Full text: St. Ingberter Anzeiger

kamstadt, 1. Juli. Heute Abend 5 Uhr 80 Minuten wurde hier 
in starkes Erdbeben mit dumpfen Getöse verspürt. 
7 Am Lorelei⸗Felsen hat sich jüngst eine eigenthümliche 
eligiöse Ceremonie vollzogen. Eine Anzahl Maänner und Fraueo, 
iner letzteren eine Jungfrau, wurden in dem Rhein von zwei dap⸗ 
istischen Brüdern aus Codlenz unter frommen Gesaͤngen sammt 
und sonders in Adams und Evas Gewande getauft. Die nahen 
aebenblätter dertraten schmeichelnd das trockaende Badeleinen. 
Tübingen, 28. Juni. Es ist eine verbreitete Unart, 
»aß Kinder sich gerne an vorüdberfahrende Gefährte anhäugen. Dies 
osiete gesteru in dem benachbarten Lustenau ein Menschenleben. 
Fin fünfjähriges Kind, das sich om Ende eines Baumstammes, detr 
ↄbbeigefuͤhrr wurde, festhielt, fil, als der Wagen über einen Stein 
sing, mit zerdrocheüem G.nick todt mieder. Ob eiu Schlag des 
Slammes oder der e nfache Sturz auf den Boden den Tod herbei⸗ 
ührte, ist uicht ermiteln. 
FCrefeld, 4. Juli. In der letzten Zeit war in Crefeld 
ind Umgegend Waizenmehl in den Handel gebracht worden, welches, 
za es sich sehr schiecht verarbeiten ließ und auch schleht schmeckte, 
)en Berdacht erregte, das soiches mi fremden Substanzen vermischt 
ei. Verschie dene Untersuchungen, angestellt von Herren Dr. Hood 
ind Dr. Ködnigs, ergaben, daß das Mehl einer Firma in der 
Nähe Crefelds mit 222, 8, sogar 4140 pCi. kohlen- und schwefel⸗ 
autem Kalk vermischt ift. Das Rejultat der Untersuchungen ist 
dem Herrn Oberprocurator zugestellt worden, und istgerichtliche 
— 
FMagdeburg. 3. Juli. In der Kohlenquube Froͤse bei 
Aschersleben ist eine Ferersbrunst ausgebrochen. Von 40 Arbeitern 
durden nur 13 gerettet, die übrigen sind erstickt. Bisher wurden 
ur 8 Leichen aufgesunden. Die Arbeiten sind schwierig wegen der 
Drken Gasentwicklung und der raschen Wasserzunahme. 
In Ober⸗Köorten bei Solingen wurde am 29. Juni 
un Mann vom Blitze gerödtet, als er neben seiner Frau auf dem 
Zopha saß. — 
.Die Legung des Tele zraphenkabels zwischen Berlin und 
dalle, 22 Meilen, st beendigt. Die erste unter:rdijche Telegraphen; 
unie im Reich ist somit dergest ilt. 
Ein juͤnger vermögender Offitier, welcher ir Be rhin bei 
einer Mutter wohnt, begab id, wie die Staatsb.Zig. meldet, 
nach einem Case. Mütze und Degen legte er im Vorzimmer ob 
und cing dann in das anstoßende Z mmer, wo seine Kameraden 
giatz genommen. Als er nach Verlauf einiger Stunden wiedet 
iach seiner Behausung zurückkehren wollte, vermißte er feine Mütze, 
ind schte deshalb einen Aufwärker nach Hause, um eine andere 
dopfdedeckung zu holen. Wie eistaunte er, als ihm sene abhan⸗ 
den gelommene Vütze gebracht wurde. Eiligst kehrte er in seine 
Wohnuug zurück und erfuhr h'er, daß en anstäudig geklei etex 
hert seine Mütze abgegeben und dafüt den Helm und 25 Thlr. 
a Empfang genommen habe, indem er der allen Dame vorge⸗ 
hwindelt, der Hert Lieutenant müsse sofort in Dienstangelegen⸗ 
deiten nach Potsdam reisen. 
f Der dieejahrige Juristentag bietet, wie die ‚Vossische 
Ztg.“ hervorhebt, ein ganz besonderes Interesse dar, indem er die 
p'chtige Frage wegen der Eutschädigungspflicht des Staates in 
Bejug auf Untersuchungshaft ꝛec. in Berathung ziehen wird. Es 
handelt sich vornehmlich datum, od im Falle der Freisprechung für 
hie Untersuchungshaft ene Entschädigung zu gewähren se'‘, und 
damt nebenber in Betracht, ob die Entschüdigungepflcht des Staates 
sich auch auf die dem Angellagten erwachsenen Kosten zu erstrecken 
— 
Hutachten eingegangen, z. B. vom Prof Wodhlderg in Wien, Prof. 
llmann in Junsbeuck, Appellationzrath Voltert zu Eisenach und 
Brof. Nißen in Straßburg. Sämmtliche Gutachten sprechen sich 
sür die Entschädigungspflicht des Staates aus, weichen ader im 
Weiteren wesentlich don einander ab. Hecrt Volbert will die Ent⸗ 
chädigung nur im Falle gesetzw driger Verhängung der Untersuchungs⸗ 
zaft gewähren. Herr Ullmann will eine arbiträre Entschädigung 
us Billigkeitsrücsichten eintceten lassen: 1) in den Fällen, in welchen 
die Verhandlung ergibt, daß das Delikt nicht von dem Anneklagten, 
ondetn von * nem Dritten begangen worden, und 2) wenn die 
Handlung nicht überhaupt als strafbar im Siane des Strajgesetzes 
tannt werde. Herr Wohlberg dagegen wünscht eine Entschädigung 
in den Fallen gewährt zu sehen, wo die Untersuchungshaft lediglich 
in Folge g'setzlicher Präfumtion des processual schen Ungehorsams 
»der Widecstandes (3. B. wegen der Höhe der gesetzlich angedrohten 
Strafe) verhängt worden ist. Herct Nißen tritt sehr ausführlich 
ür das Entschädigungsprincip ein, will dasselbe jedoch nur einen 
hne sein Verschuiden Verhafteten gelten lassen, indem die Unschuld 
zinsichtlich der That wohl dereinbar sei mit einer Schuld hinsichtlich 
det Zaft. Wer fliehe oder sich fälschlich beschuldige, der lade Schuld 
nuf sich, vorauegesetzt, daß im Uebrigea die gesetzlichen Voraus⸗ 
ezungen der Verhaftung vorhanden seten; eben so habe derjenige, 
welcher schweige, lüge oder erst zum Schlusse mit Vertheidigungs⸗ 
naterial hervorrüdde, welches die Freisprechung herbeiführe, es sich 
selbst zuzuschreiben, daß die gesetztich zulässige Haft andauerte. 
fVom Geldmarkte. Nach der Wochenübersicht der 
steichsbank vom 80. Juni betrugen die Aktiva: Metallbestand Mk. 
48 83 1. 000, Abnahme Mk. 8.023,000. Reichskassenscheine Mk. 
1,3354. 000, Abnahme Mk. 878.000, Noten anderer Banlken Mt. 
5883 000, Zunahme Mi, 476.000. Wechsel Mt. 456,678,000, 
zunahme Mi. 50. 656,000, Lombardforderungen Mt. 58,007,000, 
unahne Mk. 12,112, 000, Effetien dt. 622,000, Zunahme Mk. 
88.000, sonstige Atttven * Nit. 37,225000,* Abbhahme Mark 
129,000; die Passiva: umlaufende Noten Mk. 777,677,000, 
zunahme Mk.“ 1,087,000, naglich fällige Verbindlichkeiten Mk. 
68,537,000, Zunahme Mt. 1242.000. an eine Kündigungshrist 
ebundeue; Werbindlichkeiten Mt. 66,298.000. Abnahme Mart 
3,522. 000, sonstige Passiva Mt. 2.066,000, Abnahme Mark 
145,000. Dieser Ausweis giebb den besten Belag für die zugeh⸗ 
nende Ktneppheut' des Geldmarktes aun Schluß des Vormonatis. 
Insgesammt sind der Reichsbank etwa 72 Mill. Matk entnommen 
borden, und der ungedeckte Notenumlauf hat sich bedeutend gehoben. 
Ib jedoch wirklich eine Erhöhung deg Banlzindfußes in naher 
Aussicht steht, wie Böͤrjenblaͤtter im Laufe der Vorwoche schon wi⸗ 
nerholt erwartettn! muß deßhalb pweifelhaft erscheinen, weil mit 
dem Semesterwechsel ein bedeutender Geidrüdftuß in die Banlkassen 
»egonnen hat.. 
Paris, s80o. Jun. Die Gemablin des —X 
Mahon hat dem deutschen Botschastec Fürst Hohenlohe die Summe 
on 25,000 Francs für die durch Ueberschwemmung geschadigten 
Jewohner des Eisasses übersendet; dieselbe hat auch den auf gleiche 
Peise Geschädigten in der Schweiz eene Unterstützung zugewendet. 
London, 2. Juli, In der Nacht vom ·Samstag zum 
Zonntage fand auf der unterirdischern Eisenhathzn zwischen den 
Fianenen Kincecross und Farringdon ein Zusammenftoß von· zwei 
Zügen dadurch statt, daß der reine durch einen Schaden an der 
etdmotive unvorhergesehener, Weile, zum Holten IEX 
ind so der nachfolgende Zug seinem Weg nicht frei fand. Gegen 
10 Personen trugen mehr“ vder minder jchwete Zerletzungen davon. 
7 Dien Juwelen des verstorbenen Sultans Abdul Aziz 
vurden, wie man »aus Konstantiopel meldet, dem Finanz· 
ninster übergeben. Sie werden auf 46 Mill. Franc geschätzt. 
P Eing (besondere Vorliebe hatte der Aürkische Kriegs ninister 
ttiza Pascha für ein gewisses Armeecorps u Asien. Den anderen 
Truppen, namentlich ic Europanblied man den kargen Sold, sechs, 
icht und zehn Veonate lang schuldig, für jenes Armeecorpa aber 
veitn hinten in Asien erhod der Feriegsminister den Sold jeden 
Monat aufs Punktlichste und es war beneidet in der ganzen Armee. 
Zpäter freilich stellte es sich heraus, daß dieses Corps von 15.000 
Mann niemals exstirt hat.“ 
Fürst Milan 4. von Serbien, welcher stark geneigt 
heint, es mit der Tüͤrkei-aufzunehmeti, ist erst 20 Jahre alt. Sein 
Jand zählt 1,338,000 Einwohner, ist also der Bevölterung nach 
richt eiumal so groß als Baden, waährend de Türkei eine Gesammt⸗ 
evölkerung von 28 Mill sonen Serlen (O,20 n Europu, 183,20 in 
usie) hat. * 
7 Zu Chicago ist unlängst ein ganz eigenartiger Sonder⸗ 
ing, der angeblich baterische Kammerherr uud Teosop) Baton v. 
Palm, Geroßlkomthur des Ocdens zum berligen Grabe, gestorben 
ind mit „teosophischen? Ehren begraben worden. Der Verstor⸗ 
ene ging von det Ansicht aua, daß es manche Dinge gebe zwischen 
himmel und Erde, von denen sich unsere Philosophen nichts träumen 
issen. Dirsen Dingen aachzuforschen, setzte er sich zur Lebensauf⸗ 
abe, und auf sein System, das ägyptische und thessalische Zauberei, 
ʒeisterbeschwörung und jouftige geheime: Wissenschaften umfaßt, 
handte er den Ramen-Teosoph'e an. Von den Dingen dieser 
erte vermochten ihn nur Wagner's Musit und baierisch⸗s Bier zu 
»sseln. Seine Anhanger, die Mitglieder der teosoph schen Gesell⸗ 
haft, feierten sein Leichenbegaͤugniß mit zauberhaften Riten. Sein 
reichnam wird, wenn die Beböeden nichts dagegen einwenden, 
derdrannt werden. 
Wie Du mir so ich Dir. Ein amerikanischer Reporter 
-so serzaͤhlt die „N.Y. H.3.“ suchte am vorvergangenen Sonn⸗ 
ag einen der gegenwartig in Philadelphia weilenden chinefischen 
rommissäre auf, um im Interesse seiner Zeitung eine „Interview“ 
nit ihm zu haben. Der bezopfte Sohn des Reiches der Mite 
sieb aber auf alle Fragen stumm. Als der Reporter endlich den 
zut nahm, um sich zu empfthlen, flog ein Läͤcheln über das gelbe 
Untlitz des Chinesen, welcher fagte: „Dies ist ein christliches Land; 
Imeritaner halten den Sonntag heilig, machen die Ausstellung am 
Zonnabend nicht auf; Chinese zu höflich, um am Sonntag seinen 
Nund mehr als nöibig außzumachen.“ 
Füür die Redaction verantworilich F. X. Demeß. 
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