Full text: St. Ingberter Anzeiger

St. Ingberlker Anzeiger. 
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M 81. Samstag⸗ den 25. Mai 1878. 
Deutsches Reich. 
München, 22. Mai. Von unterrichteter Seite ist aus 
Berlin heute die Mittheilung hierher gelangt, es dürfe nicht mehr 
weifelhaft erscheinen, daß das sog. Sozialisten⸗Gesetz die Zustim⸗ 
nung des Reichstages nicht erlangen werde. Einige Mitglieder 
der national⸗liberalen Fraktion, welche glauben nicht gegen das Ge⸗ 
setz stiamen zu können, sollen — so wird hier versichert — die 
Absicht haben an der Abstimmung nicht Theil zu nehmen. 
Berlin. Am 20. d. fand hier in der Bruanenstraße eine 
socialdemokratische Volksversammlung statt, zu welcher speciell auch 
Frauen eingeloden waren, welche denn auch vereint mit Mädchen 
und männlichen Socialdemokraten in großer Anzahl erschienen. 
Jede ,Dame“ war mit einer rothen Schleife oder einem Halstuch 
hekleidet und mit Strick- und Nähzeug versehen. Die „Buͤrgerin“ 
Hahn vermißte man in der Versammlung. Deren Führerolle scheint 
jetzt eins Frau Canzins übernommen zu haben. Die Versammlung 
wurde von Kaufmann Grün eröffnelt. Derselbe kritisirte hierbelt die 
von William Ernst verfaßte Broschüre „Ein Wort gegen die Social⸗ 
demotratie“. Darauf hielt Frau Canzins einen Vortrag über die 
Pflichten und das Elend der Arbeiterfrauen, in welchem sie namentlich 
wischen dem Loose der reichen und armen Kinder eine Parallele 
‚og. Die Arbeitermütter müßten sich dagegen wehren, daß ihre 
Zinder in der Schule zu Knechten erzogen würden. Das Vater⸗ 
iand des Arbeiters sei dort, wo er Brod finde. Zwischen Arbeitern 
der verschiedenen Nationen dücke kein Völkerhuß existiren, denn alle 
bildeten eine Brüder⸗ und Schwesterfamilie. „Und was soll gar 
den Arbeitern die Religion? Hat uns der liebe Gott, auf den 
wir so lange vertrauten, schon einmal geholfen? (Ruse: Nein) 
dat die Religion bisher dem Arbeiter etwas Gutes gebracht? Aber 
die Religion lehrt Unterthänigkeit, Hnechtseligleit; darum muß sie 
den Arbeiterlindern eingeprägt werden.“ Die Arbeiterfrauen müßten 
der Religion den Rücken kehren und sich gegen den Religions⸗ 
unterricht in der Schule wehren. Als sodann Frau Stägemann 
vei Besprechung eines Arbeiterbegräbnisses in Rixdorf äußerse: „so 
iind die Pfaffen, wer kein Geld hat, der kann in der Müllgrube 
beerdigt werden“, löste der anwesende Polizeibeamte die Versammlung 
auf. In Folge dessen entstand aufangs einige Unruhe, doch wurde 
der Vorsitzende Grün bald Meister derselben und bewog die Versam⸗ 
melten, ruhig das Lokal zu verlassen. GGerm.) 
Berlin, 22. Mai. Die Deutsch Conservativen beschlossen 
einstimmig die Annahme des Attentatsgesetzes, das Cenlrum und 
der Fortschritt find einstimmig dagegen. Die Nationalliberalen 
beschlossen, das Gesetz abzulehnen, dabei jedoch ihre vollste Bereit⸗ 
willigkeit zu etklären, auf dem Boden des gemeinen Rechts (nicht 
durch Ausnahmegesetze) alle etwaigen Lücken im Gesetz auszufüllen, 
welche für Ausschreitungen bellagter Art vorhanden sein möchten, 
und erforderlichen Falles im Herbst zu außerordentlicher Sitzung 
uusammenzutreten. Bennigsen ist als Redner der Partei zur Dar⸗ 
legung dieses Standpunkles bezeichneet. (Fr. Z. und K. 3.) 
Berlin, 22. Mai. Die „Provinziat- Correspondenz“ 
ichreibt: An die Reise des Grafen Schuwalow knüpfen sich fort⸗ 
zesetzt günstige Aussichten für die Gewinnung einer hoffaungévollen 
Verständigung zwischen England und Rußland. Die neuesten Er⸗ 
lärungen der englischen Minister, sowie die Kundgebungen von 
Peersburg betonen den Wunsch und die Hoffnung einer neuen 
Sicherung des eurspäischen Friedens. 
Dem ‚Berl. Tagbl.“ meldet einer seiner Mitarbeiter aus 
Leipzig: Hödel's Mutter bewohnt auf denm Königeplaßz im 5. 
Stockwerk des Hauses Nr. 1 eine kleine Wohnung. Ein an die 
Thür genageltes Pappschild trägt die Aufschrift: „Eduard Traber. 
Schuhmacher.“ Dem Besucher präsentirt sich, nachdem die Thür 
zebffnet worden war, ein in seiner dußeren Erscheinung einen 
seltenen Contrast bildendes Ehepaar. Den kleinen, unansehnlichen, 
nuf seinem Schusterschemel sitzenden Mann überragte in ihrer außeren 
Erscheinung und wohl auch an Gewedtheit seine stattliche, wenn 
uuch etwas verschwommen aussehende Ehefrau. Das Zimmet 
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zeichnete sich durch keinen allzugroßen Grad von Sauberkeit aus, 
ein hervorragendster „Schmuck“ bestand aus großen, zu socialdemo⸗ 
ratischen Versammlungen einladenden Placaten. Der Zweck des 
Befuches überraschte das Ehepaar Traber nicht sehr, sind sie doch 
eit einer Woche in gewissein Sinne der Oeffentlichkeit preisgegeben. 
Sie beobachteten in ihren Mittheilungen auch nicht die geringste 
Zuruckhaltung. Wahrend die Frau, welche dem Sohne übrigenß 
ehr ähnlich ist, mit einer breisen, behaglichen Ruhe über die Er⸗ 
ziehung sprach, welche sie ihrem Max habe angedeihen lassen, sprang 
das kleine bewegliche Mäanchen alle Minute von seinem Schemel 
auf, um seine Frau an Vergessenes zu erinnern. „Erzähle doch, 
vie er Dich ianmer verhauen hat,“ monirte er einmal und damn 
vieder: „Mer sind zufrieden, daß sie ihn endlich feste gesetzt haben,“ 
während es ihn noch ganz besonders zu interefsiren schien, ob denn 
Max, der nun alle Tage ins Panoptikum geführt werde, dort auch 
nit Ketten ausgestellt ist. Die Leute glaubten nämlich, der Atten⸗ 
äler werde dort in Person gezeigt. Die Frau berichtete: Mein 
Sohn wurde am 27. Mai im Graßhof'schen Hause, der sogenannten 
Pretzel, wo ich in Dienst stand, heboren. Sein Vater war der 
Betreideagent Johann Lehmann in Schönefeld, der ihn auch ge⸗ 
richtlich anerkannt, aber nur acht Wochen für sein Kind gesorgt 
hat. Ich brachte den Jungen im zarten Alter zu meiner Mutter 
in Möckern und bald darauf zu meinem Bruder Wilhelm Hödel 
in Schleuditz, der auch zu seinem Vormunde bestellt wuͤrde. In⸗ 
wischen hatte ich Leipzig verlassen, wünschte aber dorthin zurüd⸗ 
ukehren. Die mir in Folge der damals noch bestehenden Be⸗ 
chränkungen der Freizügigkeit im Wege stehenden Schwierigkeiten 
zeseitigte ich durch meine Verheirathung mit meinem jetzigen Manne. 
Ichh war damals, im Jahre 1863, 48 Jahre alt. Wir nahmen 
Marx zu uns und schickten ihn in die Armenschule, jezige zweite 
Bezirksschule. Er war während seines Aufenthalts beir der Groß⸗ 
mutter und dem Onkel verzogen worden und dermaßen verwildert, 
)aß wir unsere liebe Nolh mit dem sehr unfolgsamen Jungen 
»atten. In seinem 8. Jahre stahl er während der Messe 2 Thaler 
ind wurde dafür mit zehn Ruthenhieben gezüchtigt. Er wurde 
adurch jedoch nicht gebessert, sondern vollführte fortgesetzt kleine 
Diebstähle, für welche er schließlich mit Gefängniß bestrafi wurde. 
Als er 12 Jahre alt war, brannte er uns« nach einem neuen 
Streiche aus Furcht vor Strafe durch, wurde in Magdeburg auf⸗ 
jegriffen und uns wieder zugeführt. Im darauffolgenden Jahre 
vurde er in die Besserungsanstalt zu Zeih gebracht, welche er, 14 
Jahre alt, leider ungebessert verließ. Der Klempnermeister Hertling 
rtlärte sich der Behörde gegenüber bereit, ihn in die Lehre zu 
nehmen. Dort verblied er, trotzdem sein Meister viel Mühe hatie, 
hn zur Arbeit anzuhalten, 21 Jahre, verschwand aber plößlich 
vor Ablauf seiner Lehrzeit, wurde uns abermals zugeführt uund 
von uns dann einem Klempnermeister in Kayna üdergeben, wo er 
eine Lehrzeit vollendete. Dann ging er nach Zeitz zurück und 
arbeitete beim Klempnermeister Nagel als Gehilfe, vertauschte aber 
diese Stellung bald mit einer ähnlichen in Leipzig. Viermal 
vechselte er seine Meister in kurzer Zeit, nirgends ader hielt er aus, 
weil er ein „Faulhaber“ war. Um diese Zeit bemerkte ich zum 
ersten Male, daß er sich politischen Vereinen anschloß. Das Bischen 
Lust zut Arbeit hörte auch auf und eß begann das Bummelleben. 
Er kam erst spät Abends nach Hause und warf sich auf das Col⸗ 
pottiten von socialdemokratischen Flugschriften. Was Sie hier an 
den Wänden sehen, hat er selber angeliebt, mit meinem Mann hat 
er aber nicht viel über Politik gesprochen, well der nichtz davon 
wissen wisl. Seine Reisen führten ihn Lunangesochten dis Wien, 
von dort aus aber wurde er wegen Mittellosigkeit per Schub wiedet 
zu uns gebracht. Die Bummelei wurde nun noch aͤrger; arbeilen 
wollte er nicht mehr, troßdem ihm Stellungen angeboten wurden. 
Ich sollte ihn gänzlich erhalten. Darüber kam es zu argen Scenen. 
Am 24. April dieses Jahres verließ er uns, nachdem wir ihm 
erflärt hatten, wir wollten nichts mehrt von ihm wissen. Ich brachte 
mit Mühe und Noth 12 M. auf, mit denen er angeblich über 
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