Full text: St. Ingberter Anzeiger

St. Ingberler Anzeiger. 
Der St. Ingberter Anzeiger und das (2 mal wöchentlich) mit dem Hauptblatte verbundene Unterhaltungsblatt. (Sonntagt mit illustrirter Bei⸗ 
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F 89. eauustag. den 8. Juni 1378. 
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Deutsches Reich. 
Mäünchen, 4. Juni. Um einer größeren Anzahl schon 
aängere Zeit bei der Fahne stehenden Mannschaften die Gelegenheit 
zur Verbringung der Pfingstfeiertage bei ihren Angeldrigen zu 
zjeben, wurde genehmigt, daß insoweit es die dienstlichen Verhalt⸗ 
nisse gestatten, bis zu 30 Mann pro Compagnie ꝛc. vom Freitag 
bis Dienstag einschließlich in Urlaub entlassen werden könnten. 
(Abendztg.) 
Berkin, 5. Juni. Wie verlautet, steht nunmeht d'e Be⸗ 
rufung des Reichstages fest behufs Berathung eines Gesetzes, 
welches den Regierungen Vollmachten zur Unterdxückung der sozial⸗ 
—X 
Berlhlin, 83. Jun'. Der Kronprirz hat heute Morgen in 
Folge einer böniglichen Kabinetsordre, die vom Kaiser mit Weuge⸗ 
zeichnet und vom Täürsten Bismarck und den Chefs des Militär⸗ 
und Civilcabinets gegengezeichnet ist, die Geschäfte über⸗ 
rommen. Man erwartet sür den Abend durch den Reichs— 
Anzeiger eine darauf bezügliche zffentliche Kundgebung. 
Berlhin, 6. Juni. (Bulletin Vormittags 10 Uhr.) Seine 
Majestät hat eine ruhige Nacht verbracht, Schmerzen sind auch heute 
nicht vorhanden. Die vermehrte Wartme und Anschwellung des 
cechten Vorderarmes haben sich vermindert. Der Ap, etit läßt 
noch zu wünschen übrig. Fieber ist nicht eingetreten. Der berühmte 
Thirurg Professor Esmarch (Kiel) ist gestern eingetroffen, um im 
Berein mit den übrigen Aerzten den Kaiser zu behandeln. 
Ueber die Scene, welche sich beim Eintreffen der Nachricht von 
dem Attentat in der Familie des Verbrechers entwickelte, wird von 
zut insormirter Seite Folgendes berichtet: Die in der Hindersinstraße 
vohnhaften Eltern Nobiling's — seine Mutter und der Stieivater 
— saßen am Sonntag Nachmittag beim Kaffe in höchster Seelens 
uhe und unterhielten sich mit gleichgiltigen Dingen, als ein könig- 
icher Wasen mit zwei Herren in Civil und zwei Offieieren vor⸗ 
überjagte und dann in der Roonstroße 8 anhrelt. Wenige Minuten 
puͤter fuhren die Herren mit dem Geheimrath Langenbeck, der in 
jenem Hause wohnt, wieder zurück. Herr d. G., Major a. D., 
)en Stiefvater des Nobiling, der vom Fenster aus die Eilfertigkeil 
mit angesehen hatte, sagte zu seiner Frau: „Da muß wohl eine 
„ohe Person plötzlich schwer erkrankt sein; sie habens mit dem 
Beheimrath sehr eilig.“ Eine halbt Stunde später kam eine Droschke 
eister Classe vor das Haus gefahren und eine schwarz geklerdete 
Dame mit loditenbleichem Anilitz stieg aus. „Barmherziger Gott, 
vas fehlt meiner Tachter!“ rief die Majotin und stürzte der Kom⸗ 
nenden schon auf der Treppe entgeger. Diese Tochter ist eine 
oflegende Schwester in einem Berliner Hospital. Sie bat im 
Flüsterton die Mutter, zu schweigen und erst in die Woheung zu 
ommen. Hier ließ sich die Tochter erschöpft in einen Lehnfiuhl 
zieder, während die Mu'ter mit angsterfüllter Seele an ihren 
Lippen hing. Endlich fragte die Tochter? „War Karl heute hier?“ 
— „Neinm,?“ sagte der Major, „gestern, am Sonnabend hat er uns 
hbesucht.“ — „Und Ihr wißt nicht, was heute Nachmittaz Unter 
den Linden vorgefallen ist?“ — „Nean,“ antwortete die Mutter, 
„aber spanne ups nicht auf die Folter, was ist geschehen ?“ — 
„Man hat auf Kaiser Wilhelm geschossen.“ — Der Major und 
eine Frau sprangen entsetzt auf und fragten zugleich: „Wer?“ — 
Die Tochter hölte erst tief Athem, dann anlworteie fie mit lon⸗ 
oser Stimme: „Der Mörder heißt Karl Nobiling, man schreit 
ven Namen wit Verwünschungen begleitet ducch alle Straßen der 
Stadt; ich hörte den Tumult von meinem Fensler aus und fuhr, 
vie ich ging und stand, zu Euch, um zu hören, wo unser Karl 
st,“, Der Mäjor stand wie an den Boden gewutzelt, die Muner 
iel in Ohnmacht, die Tochter fing sie in ihren Armen auf, Wieder 
lam ein Wagen vorgefahren, ziwei Herren stiegen die Treppe zur 
Wohnung des Majofs. hinauf, es waren zwei höhere Polizeibeamte, 
ie in sehr höflichem Tone den Herrn Masor v. G. uͤnd seint 
Bemahlin ersuchten, zur Polizeiwache nach der Mittelstraße mitzu⸗ 
ommen. Die Tochter fragte, ob sie ihtre Eltern begleilten dünse. 
was ihr gestatiet wurde. Die Majorin, die sich wieder erholi hatie, 
olgte von der Tochter gestützt, ihrem Panne und den beiden 
derren, die mit den Damen nach dem Mollen narki fuhren. Auf 
»em Wege dahin sprach die Mutter nicht eine Sylbe, sie sah mit 
halb verworrenem Sinn das Gewoge der Menschen auf der Straße, 
hörte das Ausrufen der Extrabläller und das Verdammen des 
Ddrders.“ Ueber die Confrontation des Attentäters mit der im— 
zlücklichen Mutter ist bereits berichtet worden. Welche Stimmung 
in der bellagenswerihen Familie berrscht, läht sich eher denken, 
As schildern. 
—Posen, 5. Juni. Buchdrucker Priwasch, stellvertretender 
Vorsitzender des hiesigen socialdemokratischen Lesebereins „Coacordia“, 
wurde Sonntag nach dem Bekanntwerden des Alttenlates wegen 
beleidigender Aeußerungen über den Kaiser verhaftet und ist heute 
»om Kreisgericht wegen Maiesflätsbeleidigung zu 4 Jahr Gefaängnß 
verurtheili worden. 
Ausland. 
Die „Post“ bringt folgendes Privat⸗Telegramm aus Wien: 
„Die Londoner Sozialen baben offenbar vorher Kenntniß von dem 
Uttentat auf den Kaiser Wilhelm gehabt. Andrassy erzählte gestern 
einigen Delegationsmitgliedern, er habe die Meldung rhallen, daß 
nglische Geheimpolizisten einen Tag vorher die engüsche Regierung 
»enachrichligt hätten, es herrsche ünter den Soziüfien ein⸗ große 
Bewegung, ein wichtiges Ereigniß scheine bevorzustehen. 
Petersburg, 4 Juni. Die „Ag. russe? schreibt: die 
Anwesenheit der Leiter der Cabinete auf dem Eongresse und der 
Beist, welcher vorausichtlich auf diesem walten werde. ließen hoffen, 
daß die orientalische Frage daselbst nicht nach kleinlichen Gesichts⸗ 
punkten der Kifersucht, sondern in einer Weise behaudelt werden 
würde, welche das allgeme'ne Einverständniß und die Befestigung 
des europäischen Friedens zun Ziele habe. Es sei zu wünschen, 
daß das Befinden Gortschakoffs demselben gestatte, dem Congresse 
beizuwohnen; der Congreß unter solchen Ümständen sei stets das 
Ziel der Bestrebungen des Reschzkanzlers gewesen. — Der Kaiser 
vesuche moraen Gorischafaff. 
VermisHtes. 
*St. Ingbert, 8. Mai. Unserm heutigen Blatte liegt 
ꝛeine Abbildung des Attentäters Dr. Carl E. N obiling bei. 
Zweibrücden, 6. Juni. Gellern hat auch das hiesige 
Zürgermeisteramt im Auftroge des Stadtraths ein Beileids— und 
Zuldigungstelegramm an Se. Moistät den deutschen Kaiser ab. 
gehen lassen. 
fKaiserslautern, 8. Juni. Ein schrecliches Ver⸗ 
rechen wurde gestern in Trippstadt umd zwar von einigen hiesigen 
ungen Leuten degangen. Man erzählt darüder Folgendes: Drei 
unge Burschen von hier, Namens Kaufmann. Hasemann und Sachs 
efanden sich in Trippstadt und machten in einer Wirthschaft solchen 
-Zcandal, daß sie mit Gewalt aus dem Lokal entsernt werden 
nußten. Der Commandant der Gensdarmerie nahm nun den 
Udiunet Schneider Schmitt mit, um die betreffenden Personen fest⸗ 
ustellen und zu protokolliren. Dieselben widersetz'en sich aber 
hätlich, wobei Adjunkt Schmitt mit Messerstichen derart verwundet 
vurde, daß er sofort eine Leiche war. — Die drei bei dem Vorfall 
Zetheiliglen sind verhaflei.“ (. 3) 
FIn Kaiserslautern sollie gestern Abend eiue social⸗ 
zemokratische Versammlung mit der Tagezordnung: „Das Altenlat 
zuf den dulschen Kaser und das Hödel-Geseh! stattfinden. In 
Folge dieser Ausschreibung erschien in der gestrigen Kaisersl. Zg.“ 
in von einer großen Anzahl Bürtger Kaiserslautern's unterzeichneter 
Aufrnf folgenden Inhalts: „Troß der traurigen Vorkommnisse der 
etzten Tage hat es schon wieder ein Socialdemokrat dus Mannheim 
ewagt, auf deute Abend eine Volksversammlung in den Kraffr'schen 
Zaal auszuschreiben, deren Zweck — wie das bisherige Wirlen 
ꝛer Socialdemokratie zur Genuͤge zeigt — nur ein⸗ Aufwiegelung 
inserer Bevölkerung sein kann.