Full text: St. Ingberter Anzeiger

St. Ingberler Anzeiger. 
Der St. Ingberter Anzeiger und das (2 mal wöchentlich) mit dem Hauptblatte verbundene Unterhaliungsblatt, (Sonuntags mit illustrirter Vei⸗ 
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M 91 Dienstag, den 11. Juni. ʒ 1 
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Deutsche Sozialdemokraten in London. 
Man schreibt aus London: Wenn man die socialdemolbratische 
Partei in ihrer ganzen Nadckttheit und Unverfrorenheit kennen lernen 
will, dann bietet sich in London reichliche Gelegenheit dazu. Es 
zxistiren dort mehrere socialistische Vereine, deren Mitglieder lediglich 
deutsche Arbeiter jnd. Alles, was Deuischland den Rücken kehrt, 
theils weil es der Militärpflicht nicht genügen will, theils weil es 
beim moralischen oder materiellen Bankerott mit den Gesctzen in 
Conflilt gekommen, wendet sich in London der Sozialdemokralie zu. 
Von ihr erhoffen sie, die sich aus eigener Verschuldung mit der 
Besellschaft in Deutschland zerworfen haben, ihr Heil und ihre Zu⸗ 
kunft. Man braucht nur die Reihen der Londoner deutschen Sozial⸗ 
demokraten zu mustern, um über dieselben zu erschrecken. D'e 
Führer leben von den Mitteln, die ihnen die Gesinnungsgenossen 
in Deutjchland senden und die Verführten sind anrüchige und dunkle 
Existenzen. In ihren Vereinen wird der Mord gepredigt und gegen 
den deutschen Thron und die Zustände in Deutschland unsäglich 
getobt, werden die unfläthigsten und revolutionärsten Schriflen ver— 
jaßt und nach Deutschland geschmuggelt, kurz eine Meule heran⸗ 
gezogen, die in der Stunde der Gefahr und der Entscheidung ein 
Schrecken der Welt sein könnte. Im Lager der deutschen Soz'al⸗ 
demokraten in London wetteifert die grasseste Unwissenheit mit der 
hrutalsten Rohheit. 
Diese allgemeinen Sätze erhalten eine schlagende Illustration 
zdurch die Vorgänge, welche in London jüngst dei Gelegenheit der 
Aeberreichung einer Adresse der deutschen Arbeiter an das kron⸗ 
prinzliche Paar stattfanden. Nicht als ob die Vorgänge an und 
ür sich von großer Bedeulung und Tragweite wären, aber man darf 
in ihnen ein Symptom einer maßlosen geistigen Berwilderung er⸗ 
zlicken, die sich bei Denen eingenistet, denen die schöne Idee der 
Zugehörigkeit zu einem geliebten Vaterlande und die Achtung, die 
man der treuen Vaterlandsliebe schuldig ist, unterging in einem 
Gemisch konfuser, kosmopolitischer Ideen und der toll und besessen 
um sich schlagenden Rohheit, die ihre Freude hat an dem lärmenden 
Slandale. 
Die deutschen Vereine London's beschlossen, eine Bersammlung 
zur Diskufsion einer Adresse an den Kronprinzen abzuhalten. Eine 
Meute verkommener Gesellen drängte sich unter wüstem Toben in 
das Lokal und suchte durch tolles Geschrei, und Lärm jede geordnete 
Debatte zu stören. Als der Vorsißende sah, daß sich eine Ver— 
sammlung mit solchen Stoörenfrieden nicht abhalten lasse, erklärte er 
die Sitzung vorläufig für geschlossen. Dies war das Signal zu 
einem Höllenläͤrm. Während die loyalen Arbeiter in den andern 
RKaumlchkeiten sich zerstreuten, versüchten die Sozialdemokraten eipe 
Bersammlung unter fich abzuhalien. Die Rädelsführer derselben 
üernahmen den Vorsitz und schwatzten tolles Zeug uüͤber Vaterland, 
Deutschland, Loyalitaͤt u. s. w., dazwischen wuste Fanfaronaden 
Aber die allen, zum Ekel breitgetreienen Themaia. Ein Knirps 
aus Sachsen, Milisärflüchtling, seines Zeichens Häringsverkäufer in 
inem kleinen Geschäfte, geberdete sich am iollsten, und mit bestia⸗ 
lischer Rohheit wüͤihete er gegen alles Bestehende, um schließlich zu 
xllären, daß das ganze Ättentat Hödel's in Berlin ein reiner 
humbug sei und daß der elende Hödel von der Reaklion als Werk— 
Feug zu dieser Farce gedungen worden sei. Die Mitglieder dieses 
Vereins sahen sich durch diese freche Verhöhnung des den Arbeitern 
Jewährten Gastrechtes verletzt, und da die gütlichen Aufforderungen, 
»en Saal zu räumen, fruüchtlos blieben, begab sich der Prüsident 
)es Vereins zur nächsten Polizeistation, um den Saal räumen zu 
lassen. Die Polizei leistete diesem Ersuchen Folge und sechs Poli⸗ 
isten führten die Krakehler zur Thür hinaus 
Darauf wurde in Ruhe der Entwurf der Adresse festgestellt. 
Am folgenden Tage wurde sie von einer felerlichen Deputation dem 
ronprinzlichen Paar üterreicht. Leider sollle es auch diesmal nicht 
hne Störung abgehen. Vor dem Palast der deutschen Botschafl 
jatten sich Kommunisten und Sozialdemokralten in Massen eingefunden; 
je setzten durch das Abfingen der Marseillaise eine pöbelhafte 
Begendemonstration in Szene. Dann vertrieben sie sich die Zeil 
zamit, Andersdenkende zu insultiren. Sie hatten sich in einzelne 
Rudel vertheilt und beschimpften Jeden, der ihnen in den Weg trat. 
Als die Deputation aus der Botschaft kam, wurde sie mit Schmähungen 
iberhäuft. Die Sojialdemokraten folgten den einzelnen Mitgliedern 
ind insultirten sie in den Seitengassen in gröblichfier Weife. Wieder 
jeichnete sich unter dieser Bande der erwähnte Knirps aus Sachsen 
mus, der an der Spitze einer kleinen Schaar Flüche ausstieß, zur 
Justheilung von Schlagen aufforderte und laut bedauerie, daß seine 
hartei nicht einige Fässer Pelroleum mitgebracht habe. 4 
Diese freche Demoustration hak zu dem Gerücht Anlaß gegeben, 
zaß in London ein Attentat auf den Kronprinzen gemacht worden 
i. Wie scharf die englische Preffe diese Ausschreitungen verurtheilt, 
udge folgende Stelle des Standard“ beweisen: „England öffnet 
jastfreundlich seine Thore den Flüchtlingen aller Länder und aller 
Meinungen, aber e8 wird nicht dulden, daß diese Gastfreundschaft 
nißbraucht werde. Die deutschen Sozialisten leben hier unbelaͤstigt 
ind unbewacht, aber derartige Demonsirationen sind unertraglich. 
Solche Schändlichkeiten müssen unterdrückt werden. Jederman ist 
rei in seinen religiösen und politischen Meinungen, aber wenn Mei⸗ 
nuungen ihren Ausdruck finden in Gewaltakten, in Jusullen gegen 
ürstliche Gäste oder in Beschimpfungen loyaler Deputationen, dann 
nuß das Gesetz in Anwendung kommen!“ 
Deutsches Reich. 
Berlin, 7. Juni. Die von der preußischen Regierung 
eim Bundestath eingebrachte Vorlage betreffend die Aufloͤsung deẽ 
deichstags ist von gestern datirt und vom Fürften Bismardck ge⸗ 
eichnet. Sie lauset: „Die Erkenntniß der Gefahren, welche 
S„taat und Gesellschaft durch das Umsichgreifen einer jedes fittliche 
ind rechtliche Gebot verachtenden Gesinnung bedrohen, hatte die 
jerbündeten Regierungen bewogen, anläßlich des Attentats vom 
I. Mai einen Gesetzentwurf zur Abwehr sozialdemokratischer Aus⸗ 
hreitungen vorzulegen. Der Reichstag hat die Vorlage abgelehnt. 
Inzwischen ist durch ein westeres ruchlofes Verbrechen gegen den 
daiser von neuem der erschütternde Beweis gelieklert, wie weit jene 
Besinnungen um sich gegriffen, wie sie sich bis zu mörderischen 
Thaten steigern. Mit erhöhtem Ernst tritt an die Regierungen die 
Frage heran: welche Maßregeln zum Schutz des Staates und der 
Zesellicha't zu ergreifen seien. Angesichtz des Mlemals vom 2. 
zuni wird die Veraniworllichkeit der Regierung für die Aufrechter⸗ 
jallung der Rechtsordnung durch jenen Gesetzentwurf nicht mehr 
jedecht sein. Die preußische Rgierung ist der Ansicht, daß es 
nörbig ist, den Weg der Gesetzgebung lin der durch die Vorlage 
ʒezeichneten Richtung schon jetzt weiter du verfolgen. Bei der von 
der Reschstagsmeh:heit eingenommenen Stellung laͤßt sich nicht darauf 
rechnen, daß eine wiederholte Vorlage oder ein auf gleicher Grund⸗ 
lage ruhender Entwurf einen besseren Erfolg erziele. So erscheint 
es rathsam, durch die Auflösung des Reichstags Neuwahlen herbei⸗ 
führen. Die preuß sche Reglerung glaubl dies um so mehr befür⸗ 
worten zu follen, als sie gegen die Richtung, in welcher ihr von 
Rednern des Reichatags eine evenluelie Unterstützung in Aussicht 
zestellt wurde, prinzipielle Vedenken hegt. Sie ist nicht der 
Reinung, welche die bestehenden Gesete gewähren, im Ganzen eirer 
Finschränkung bedürfe, und hält es nicht für gerecht, mit den er⸗ 
sürebten Sicherheitsmaßregeln andere als die bestehende Rechtsord⸗ 
aung gefährdende Bestrebungen zu treffen. Gerade die Bestrebungen 
der Sozialdemokratie machen eine Abwehr nöthig. Auf Grund des 
Art. 24 der Verfassung (nach wilchem zur Auflösung des Reichs— 
jags während der Legislakurperiode ein Beschluß des Bundesraths 
anter Zustimmung des Kaisers erforderlich isi) wird daher beantragt, 
die Auflösung des Reichslags zu beschließen.“ 
Die Annahme des Antrags auf Aufld fung des Reichs⸗ 
hages von Seiten des Bundesrathes wird als zweifellos angesehen. 
Die Neuwahlen werden ungefähr für Ende Juli in Aussicht ge⸗ 
nommen, die Einberufung des Reichstages soll dann in kürzester 
Zeit folgen. Während der Wahlperiode dird der Bundesrath die 
»em Reichstage vorzulegende Gesetzentwürfe fesistellen. Dieselben 
verden nicht nur Maßregeln gegen die Sozialdemokraten, sondern 
vuch die wirtyhschaftliche Polink betreffenden Vorlagen umfassen.