Full text: St. Ingberter Anzeiger

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Ingberler Anzeiger. 
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der St. Jugberter Anzeiger und das (2 mal wöchentlich) mit dem Hauptblatte verbundene Unterhaltungsblatt, (Sonntags mit illustrirter Bei⸗ 
lage) erscheint wöchentlich viermal: Dienstag, Donnerstag, Samstag und Sonntag. Der Aboune mentspreis beträgt vierieljährlich 
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M II. Samstag, den 19. Jauuar 1878. 
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Unbewufite Sozialdemokraten. 
Unter obigem Tilel bringt die in Berlin erscheinende Wochen⸗ 
schrift: „Die soziale Frage“ nachstehendes vernünftiges „Wort aus 
den Arbtiterkreisen“: 
Gegenuber dem schnellen Wachstham der sozialdemokratischen 
Pattei gilt es vielfach als ein Trost, daß die Zahl der bewußten 
und in ihren Zielen völlig klaren Mitglieder — wenn von solchen 
überhaupt die Rede sein kann — sehr gering ist und der weitaus 
größte Theil dieser Partei, ohne recht zu wissen, warum und weß— 
holb, dem Sozialismus anhängt. Das läßt auch vielen die Gefahr 
geringer erscheinen, die der heutigenGesellschaft aus der Verbreitung 
der sozialistischen Grundsatze droht. Man sagt sich einfach: die 
Leute werden schon von selbst wieder gescheidt werden und einsehen 
lernen, daß die prallische Durchführung sozialistischer und kommu⸗ 
nistischer Pläne unmöoͤglich ist. 
Wer diese Ansicht hegt, hat so Unrecht nicht. Wir selbst 
sheilen dieselbe, nur mit dem Unlerschiede, daß wir die Wiederk hr 
bisserer Einsichten bei jenen Leylen nicht in kurzer Zeit, sondern 
erst danu erwarten, wenn sich ihnen das Bewußtsein der Unmöglich⸗ 
deit und der Unaussührbarkeit ihrer Wünsche und Pläne mit un—⸗ 
umstößlicher Gewißheit aufgedräugt hat. Abet darin liegt eben die 
Befahr: nicht in der einstigen Durchführung der soz'alistischen Idee, 
die für jeden Verständigen außer Frage steht, sondern vielmehr in 
der bloßen Mözlichkeit, daß auch nur der Versuch gemacht und 
wiederholt werden könnte, die Sozialdemokratie zur Herrschaft zu 
zringen. 
Demnach wäre es vollkommen falsch, wollte man die unbe— 
wußten Anhänger der Sozialdemokratie außer aller Berechnung 
lassen. Wer sich die Aufgabe gestellt hat, die Sozialdemokratie 
zelämpfen zu helfen, muß gerade jene Leute zunächst in's Auge 
jassen. Nimmt man den Führern ihre Truppen, so werden sie es 
wohlweislich untersassen, mit ihren eigenen Köpsen Sturm zu laufen 
zegen die Mauern der gesellschaftlichen Ordnung. 
Dabei ist aber wohl zu bedenken, daß es sehr schwierig ist, 
jsene Leute zu belehren, die sich bereits offen als Sozialisten bekannt 
haben, das wird rur in seltenen Fällen gelingen. Die Banade, 
mit denen die Sozialdemokratie ihre Anhänger au sich kettet, sind 
zu veischieden und wurzeln zu sehr in der Natur des ungebildeten 
Menschen, um mit leichter Mühe gelöst zu werden. Unzufriedenheit 
nmit den bestehenden Verhältnissen, Erbitterung über vermeintlich 
oder wirklich erlitlenes Untecht, sittliche Entrüstung über die vor—⸗ 
zemalte Verkommenheit der Meunschheit, zumal der besitzenden, der 
lünstlich erzeugte Glaube an eine planmäßige, systematische Unter⸗ 
drückung des Armen durch den Reichen, die Hoffuung auf ein glück⸗ 
liches, sorgenfreies Leben unter der Herrschaft der Sozialdemokratie 
— lauter Gefühle, d'e im Gemüth und Herzen, aber nicht im 
Verstande wurzeln — sie fesseln die Leute aneinander, wozu sich 
eine auf Kampf und Streitsucht begründete Parteidisphen gesellt, 
die den Bann noch mehr befestigt. Wer also an der Belämpfung 
der Sozialdemokratie theilnehmen will, möge nicht erwarten, daß 
sich die Zahl ihcer ausgesprochenen Anhänger so schnell verminder', 
als sie zugenomwen, im Gegentheil, man möge vollkommen zufriedea 
sein, wenn das fernere Anschwellen derselben vermindert und gehin⸗ 
dett wird. Um dieses Ziel zu erreichen, wirden schon die denkbarsten 
Anstrengungen eiforderlich sein. 
Wer so mitten unter den Arbeitern, den kleinen Handwerkern, 
Pewerbetteibenden, den niedern Beamten, kurz unter Denen steht, 
hie man so schlechtweg als das „acbeitende Volt' bezeichnet, wer 
täglich Gelegenheit hat, die Gedanken und Empsindungen der Leute 
zu belauschen, Der wird wissen, daß die Zahl der unbewußten 
An 
xẽs gibt uämlich sehr viele Männer, die sich offen und ehrlich als 
Begner der Sezialdemokralen dekennen und Dies auch bei jeder 
Belegentzeit durch die That bekanden und doch vom Sozialismus 
angelränkelt sind. Das ist aber weniger eine Folge der soziali⸗ 
stischen Agisationn, als vielmehr dieser liegender Verhältnisse, eine 
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Folge mangelhafter wissenschaftlicher, wirtbschaftlicher und politischer 
krziehung. 
Im Großen und Ganzen erblickt das niedere Volk in der 
segierung die irdische Verkörperung der Vorsehung. Als Lassalle 
mĩere heutigen Begriffe von Staatswesen als einer Nachtwächter⸗ 
dee entsprungen hezeschnete, da hatte er sicher nicht die große Masse 
des Volkes im Auge, die jederzeit gern bereit ist, den Staat, die 
Regierung oder Gesetzgebung, was den Leuten als ein und dasselbe 
zilt, für alles Gute und Schlimme verantoortlich zu machen und 
»ie Abhilse aller Uebel nur von der Regierung zu erwarten. Ge⸗ 
vöhnlich hat man dabei nur sein eigenes Ich im Auge und ver⸗ 
zißt, daß der Staat vielleicht die Gewalt, aber nicht das Recht 
sat, in das Recht des einzelnen Bürgers einzugreifen. Wo die 
igene Kraft nicht ausreicht, vielleicht weil sie an unrichtiger Stelle 
zerwandt wurde, oder weil man Unmöglsches verlangte, macht man 
ofort den Staat verantwortlich uad verlangt von ihm Hilfe. 
Halten wir uns des Verftändnisses halber an einen bestimmten 
Fall. Bekanutlich sind durch Anwendung der Maschinen in der 
Broduction viele Arbeitskräfte ganz überflüssig und wiederum viele 
Arbeiten so erleichtett und vereinfacht worden, daß die geringere 
draft des weiblichen Geschlechts oder der Jugend zu ihrer Erfüllung 
wusreicht. Vom Standpunkte einer gesunden Volkswirthschaft wirb 
nan Das nicht verurtheilen, im Gegentheil, man muß dem weib⸗ 
ichen Geschledt schon aus rein menschlichen Gründen volle Arbeits⸗ 
reiheit zugestehen, aus denselben Gründen aber auch verlangen, 
»aßz der Arbeitslohn nach der Leistung, nicht aber nach dem Ge⸗ 
chlegt berechnet wird. Weil das Letztere vielfach geschieht, weil 
veibliche Arbeiter und auch Kinder vielfach dazu dienen müssen, die 
Urbeit erwachsener mäunlicher Personen im Preise herabzudrücken, 
»eßhalb hat sich in den betreffenden Kreisen ein förmlicher Haß des 
nännlichen gegen den weiblichen Arbeitsstand herausgebildet, und 
nan verlangt vom Staate, er solle dadurch Abhilfe schaffen, daß 
r die Verwendung weiblicher und iugendlicher Arbeitskräfte in 
jabriken und Werkstätlen untersagt. Wer wun versucht, den Leuten 
lar zu machen, daß der Staat dieses Verlangen nicht ersfüllen kann, 
jaß ihm nichts weiter zu thun bleibt, als die Grenzen für die 
Jeiwendung weiblichtr und jugendlicher Arbeitskraft so eng zu zie⸗ 
en. daß Gesundheit und Sittlichkeit nicht in Gefahr kommt, Der 
jeräth leicht in den Geruch eines Arbeiterfeindes. „Wir jahlen 
insere Steuern und erhalten damit den Staat, wir opfern im 
driege Gut und Blut für den Staat, was nutzt uns derselbe, 
venn er uns nicht schützen, wenn er nicht dafür sorgen kann, daß 
vit Arbeil und Verdienst haben ?“, so wirft man uns entgegen. 
58 mag Dieß nur ein Nothschrei der Arbeiter sein, die unter dem 
xinfluß der geschäfllichen Krisis stehen und weder ein noch aus 
v'ssen, aber dieser Schrei ist darum nicht minder bedeutungsvoll. 
Wer in dieser oder ähnlicher Weise die Hilfe des Staates verlaugt, 
Der ist, ohne es zu wissen oder zu wollen, bereits Sozialdemokrai 
zjeworden oder im Begriff, es zu werden. 
De schon seit mehreren Jahren andauernde Noth unter den 
Arbeitern hat mehr für die Sozialdemokratie gewirkt, als alle Agi— 
latoren; die Hoffnung, daß sich mit der Hebung des Geschäftes 
nuch diese Verhälinisse wiedetr ändern werden, ist sehr problematisch. 
Die Erhöhung des Verdienstes in besserer Zeit wird den ausge— 
prochenen Soz'alisten die Mittlel geben, durch rege Agitjalion die 
inbewußt angelrankelten Elemente vollends an sich heranzuziehen, 
iuf der andern Sesse werden die von Zeit zu Zeit immer wieder— 
ehr nden Krisen durch die mitgeführte Noth stets neue Massen an⸗ 
sränkein, wenn nicht mit aller Energie dagegen gearbeitet wird. 
Im Inleresse der gesammten Gesellschaft liegt es daher, die 
Berhältnisse des Arbeiterstandes möglichst zu verbessern, materiell 
ind geistig. Materiell, damit die Noth nicht so oft an ihn heran⸗ 
ritt, geistig, damit, wenn de Noth unabwendbar ist, der Arbeiler 
nicht an falscher Stelle Hilfe fordert, sondern allein dort sucht, 
vo sie sicher zu finden ist: in der eigenen Kraft und der Koalition 
er einzelnen Kräite.