Full text: St. Ingberter Anzeiger (1880)

St. Ingberler Anzeiger. 
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Samstag, den 18. Dezem ber 
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Deutsches Reich. 
Die bayerische Staatsregierung bringt dem Projekt, daß 
im Laufe des Jahres 1880 in Berlin eine internationale Eisenbahn— 
Ausstellung veraͤnstaltet werde, keine besonderen Sympathieen ent— 
gegen; dafür wird sie mit allen Mitteln für eine reiche Entfaltung 
der Mittel des bayerischen Betriebswesens bei der Landes-Industrie— 
wewerbe⸗ Ausstellung zu Nürnberg sorgen. 
Der Steuergesetz- Ausschuß der bayerischen Abgeordnetenkam— 
mer berathet gegenwärtig über die Grund- und Haussteuer, wozu Ab⸗ 
änderungsanträge sowohl von der kgl. Staatsregierung, als auch 
bon dem Abg. v. Hörmann, Ostermann und Graf Függer einge— 
bracht sind, so daß im Ganzen bereits 22 Anträge vorliegen. In 
der Sitzung vom 13. Dez. wurde die Frage erwogen, in welchen 
Füllen eine Erhöhung der Arealsteuer um das Doppelte oder das 
Dreifache eintreten dürfe, und einigte man sich schließlich dahin, 
daß bei Villen und anderen Luxusgcbäuden, ferner bei Gebäuden 
von im Betrieb befindlichen Fabriken die Arealsteuer auf das Dop⸗ 
pelte oder dreifache der Verhältnißzahl solle erhöht werden dürfen. 
lleber den Geltungsbereich der Mufterhäuser einigte man sich dahin: 
„Gebäude, bei welchen außergewöhnlich günstige oder ungünstige 
Verhältnisse bestehen und auf die Höhe der Miethzinse Einfluß haben, 
sind von der Aufnahme unter die Musterhäuser ausgeschlossen. Als 
Musterhäuser können übrigens nur solche Gebäude benützt werden, 
bei welchen der vom Eigenthümer und von den Mitbewohnern an— 
gegebene Miethertrag von sämmtlichen Taxatoren anerkannt und 
gegen deren Wahl, Geltungsbereich und Miethsätze von keinem 
anderen Hauseigenthümer innerhalb einer unstrecklichen Frist von 
14 Tagen von der öffentlichen Bekanntmachung der Musterhäuser, 
ihres Geltungsbereiches und ihrer Miethsätze an. ein begründeter 
Einspruch erhoben worden ist.“ 
Auf Grund einer Ordre des Kaisers vom 9. d. werden in 
den Jahren 1881 und 1882 28,623 Ersatzreservisten erster Klasse 
hei der Infanterie und den Jägern und 1320 Ersatzreservisten bei 
der Artillerie zu einer zehnwöchentlichen Uebung bei allen 
deutschen Armeekorps, ausgenommen dem Gardekorps, einberufen. 
Als Zeit für diese lebungen sind die Herbstmonate bestimmt. 
Bei jedem Linien-Bataillon wird für die Dauer der Uebungszeit 
eine Ersatze Reserve-Kompagnie formirt, wozu als Ausbildungs-Per— 
sonal Linien-Offiziere und Unteroffiziere kommandirt werden. 
Der Berliner Korrespondent der „Times“ telegraphirt seinem 
Blatte, daß die zur Erwägung der Räthlichkeit, das Repetir—⸗ 
gewehr im deutschen Heere einzuführen, niedergesetzte Militär— 
lommission sich nach reiflicher Erwägung vorläufig gegen die 
Veränderumg entschieden habe. 
Aus den Kreisen, welche dem Reichskanzler nahe stehen, 
wird mit starker Betonung versicherl, daß derselbe den Agitationen 
um Aufhebung der obligatorischen Zivilehe entschieden ablehnend 
gegenüberstehe und daß die Nachrichten, als hätten die mecklenburg— 
ischen Regierungen bei ihrem Ansturm auf die Zivilehe auf die 
Unterstützung des Reichskanzlers zu rechnen, tendenziöse Erfind- 
maen seien. 
Zur Verhinderung von Versuchen der Albanesen, das von 
den Montenegrinern occupirte Gebiet zu beunruhigen, sind 
dem Vernehmen nach türkischerseits 17 Bataillone der neuen 
Grenze entlang aufgestellt. 
Die „Agence russ.“ theilt mit, daß in der chinesisch⸗-rus⸗ 
sischen Frage eine friedliche Wendung eingetreten ist. 
Pfälzisches Schwurgericht. 
IV. Quartal 1880. 
11 Dez. Verhandlung gegen Anna Maria Hofsäß, 24 Jahre alt, 
ledige Dienstmagd von der Benjenthaler Muhlen, Gemeinde Dei— 
desheim, wegen Kin dam orr d s. Vertreter der k. Staatsbehörde: Staais— 
anwalt Dr. Krell, Vertheidiger: Rechtsanwalt Gink. 
Bei dem Ackerer und Wirth Friedrich Schöneberger in Niederauerbach 
trat die Angeklagte, die vorher in Mimbach als Magd gedient hatte, im 
Monate Mai in Dienst. Wie verschiedene Leute, die mit ihr verkehrten, be⸗ 
merkten, war sie damals in anderen Umständen; sie stellte jedoch diesen ihren 
Zustand auf jedesmaliges Befragen entschieden in Äbrede. Im Herbste ds. 
Is. wollte sie sich in Niederauerbach mit einem Burschen, mit dem sie sich ver⸗ 
lobt hatie, zum Zwecke der Werehelichung ausrufen lassen, doch statt einer fröh— 
lichen Hochzeit sollte für die Angeklagte eiwas Schlimmes folgen. 
Ein Dienstknecht des obengenannten Schöneberger arbeiteie am 80. Okt. 
ds. Is auf dem Heuspeicher in einer von Schöneberger gemietheten Scheuer 
und and daselbst, unter Stroh versteckt, ein init einem Laubtuch umhülltes 
Paquet; da er in Folge der auf dem Speicher herrschenden Dunkelheit nicht 
unterscheiden konnte, was das Paquet enthalle, so warf er dasselbe die etwa 
2!/2 Meter tiefer liegende Scheuerienne herab und entdeclte nun in dem Pa⸗ 
quet die schon stark in Verwesung übergegangene Leiche eines neugebornen Kindes 
Nach den Beobachtungen, die man schon früher an der Angeklagten ge⸗ 
macht hatte, war man nicht lange im Zweifel daruber, wer die Moͤrderin 
dieses unschuldigen Wesens sei. Tieselbe wurde in Untersuchungshaft genommen 
und gestand daselbst ein, die Mutter des aufgefundenen Kindes zu sein, das 
sie in der jraglichen Scheuer, zu der sie Zugan hatte, am 5. September ab⸗ 
hin geboren haben will. Das Kind will sie, nachdem schon vorher der Ent⸗ 
chluß, es zu tödten, in ihr reif geworden sei, an einen Balken gestoßen und 
so dessen Tod herbeigeführt haͤben. Die ärztliche Sektion der Leiche unter⸗ 
stützte diese Angabe und das Schlußqutachten der Aerzte lautete dahin, daß 
der Sektionsbefund nicht im Widerspruche stehe mit dem Gesländnisse der 
Ungeklagten. 
Nach dem die kgl. Staatsbehörde die Anklage vertreten hatte, machte die 
Vertheidigung geltend, daß die Möglichkeit immer vorhanden sei, daß das 
rind schon vor dem fraglichen Stoß an den Balken in Folge von Verblut⸗ 
im gestorben sei, und dann liege weder eine vorsätzliche, noch eine fahrlässige 
trasbare Handlung von Seiten der Angeklagten vor Auf diese Ausführungen 
zin beantragte die k. Staatsbehörde noch eine auf Versuch gerichtete Frage, 
ndem sie bemerkte, oaß ein strafbarer Versuch nach der neueren Rechtsprech⸗ 
ung des Reichsgerichts auch dann vorliege, wenn das Odjekt zwar an sich ab⸗ 
jolut untauglich zur Vollendung des Verbrechens war, wenn aber der Thãter 
keine Kenntniß von dieser Untauglichkeit hatte Uriheii des Reichsgerichts von 
10. Juni 1880). 
Die Geschworenen erklärten die Angeklagte des Kindsmords für schuldig, 
nahmen jedoch milderude Umstände an, und wurde dieselbe hierauf zu einer 
Befängnißstrafevons Jahren verurtheilt. 
13. Dez. Verhandlung gegen Juliius Marx, Kaufmann in Mann⸗ 
heim, wegen Meine id. Verireter dernk. Staatsbehörde: Staatsanwalt 
Peit rei. Vertheidiger: Rechtzanwalt Kieffer. Der Angeklagte ist nicht 
verhaftet. Im Januar 1878 machte in weiten Kreisen die Gam des Frucht⸗ 
händlers Eduard Levy von Pirmasens großes Aufsehen. Die gegen denselben 
wegen betrügerischen Bankerutts eingeleitete Untersuchung erbrachte keinen sicheren 
Beweis für dieses Verbrechen dagegen wurde Levy von dem Zuchtpolizeigericht 
wegen Betrugs zu einer langiährigen Gefängnißsirafe verurtheilt, weil ange⸗ 
nommen wurde, er habe, als er sich seiner Zahlungsunfähigkeit bewußt war, 
dieselbe durch sein Benehmen in so geschickter Weise verdecit, daß seine Liefe⸗ 
ranten ihm großartige Getreide und Miehlvorräthe auf Credit abließen, die 
er möglichst schnell zu Schleuderpreisen versilberte. Unter den Firmen, die 
durch diese Gant immense Summen rerloren, befand sich auch der Kaufmann 
Rathan Marx in Mannheim, der Vater des Angeklagten. Verselbe hatte im 
Povember 1877 an Levy in Pirmasens kine Fruchtlieferung von für 15,560 
Hark gemacht und bei der drei Monate später ausgebrochenen Gant, in der 
zöchstens 10 Prozent Dividende herauskamen, circa 15,200 Mark verloren 
Merr hatte aber, bevor er dem Levy diesen bedeutenden Credit eröffnete, am 
19. Sept. 1877 bei dem Bankhause Kehr in Kaiserslautern Erkundigungen üÜber 
devy eingezogen, die für Levy vollkommen gunstig ausfielen. Mart reichte 
am 22. Juli 1878 dem Handelsgericht Kaiserslautern gegen Kehr eine Ent. 
chädigungsklage im Betrage obiger 15,200 Mark ein, wobei er aufftellen 
nußte, Kehr habe zur Zeit, als er jene Auskunft gab, die schlechten Verhält⸗ 
nisse Levys gekannt und er, Marrx, sei einzig und allein durch diese Auskunft 
Zehr's zu der Creditirung der bedeutenden Summe veranlaßt worden. Dieser 
Prozeß, der in erster Instanz mit Abweisung der Klage endete, schwebi noch 
eute vor dem k. Oberlandes gerichte. Das Handelsgericht Kaiserblautern hatte 
Zeugenbeweis angeordnet und am 25. November 1878 fand vor dem k. 
Landgerichte Ludwigshafen das Zeugenverhör statt. Als Zeugen wurden da— 
mals auch verhört, nachdem fie den vorgeschriebenen Eid geleiftet hatten, der 
Sohn des Klägers: der heutiage Angeklagte, und der SEüwiecersohn des 15. 
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Ausland. 
Nach einer Meldung aus London vom 16. Dez. geht das 
zweite Bataillon der Schützenprigade nach Irland. Alle beur— 
laubten Maunschaften der in Irland stationierten Truppentheile 
sind zurückberufen und neue Urlaubsgesuche abgelehnt worden. 
Das sieht ernst aus!) 
Dem Vernehmen nach hat die Pforte die Absicht aufgegeben, 
in der griechischen Frage ein Rundschreiben an die Miächte 
zu erlassen. 
Der Schiedsgerichtsgedanke für die griechisch⸗türk⸗ 
ische Grenzfrage, den Frankreich angeregt und den England sofort 
aufgegriffen hat, beschäftigt die diplomatische Welt ohne sie zu er⸗ 
hitzen. Für jeht scheint man in Konstantinopel und Athen dahin 
wirken zu wollen, daß der Sultan und Konig Georg sich bereit 
erklären, die Entscheidung des europäischen Schiedsgerichts als 
bindend und sie verpflichtend zu erklären. Datin aber liegt gerade 
die Hauptschwierigleit. Die Türkei wenigstens scheint sür jetzt noch 
ganz anderen Gedankengängen zu folgen