Sl. Ingberler Anzeiger.
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— 61.5 Samstag, den 16. April J 1881.
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Eine Vergleichung der gegenwärtigen Zustände
Rußlands mit denen Frankreichs vor der Revolu⸗
tion bietet auf der einen Seite so viel analoge Erscheinungen,
auf der andern aber so viel charakteristische Abweichungen, daß
wir versuchen wollen, einen kurzen Ueberblick zu geben und einige
Bemerkungen daran zu knüpfen.
In Rußland ist zwar die Leibeigenschaft aufgehoben, dadurch
aber die materielle Lage der großen Masse des Volkes wenig ver⸗
bessert, weil durch den langen Druck jede Energie in letzterem er—
ttickt und die strengste Bevormundung durch die Dorfältesten und
die Behörden ausgeübt wird.
Nicht anders war es in Frankreich seit Ludwig XIV., wo
die Bauern in den kümmerlichsten Verhältnissen unter der drückend⸗
tten Steuerlast seufzten. Während aber in letzterem Lande der
Adel und die Geistlichkeit die alleinigen Stützen des Thrones wa—
en, sieht sich der Adel Rußlands durch die Befreiung der Bauern
in seinen Einkünften und seinem Ansehen geschädigt und vermehrt
die Zahl der Unzufriedenen. Beweis hierfür ist die verhältniß—
näßig große Menge von Personen, welche er zum Kontingent der
Nihilisten stellt.
Wie die Geschichte lehrt, erträgt ein Volk lange eine Miß—
egierung, wenn die Fehler derselben seinem Charakter entsprechen;
iber niemals auf die Dauer den Mangel einer geordneten Rechts⸗
oflege.
In Frankreich wurde die Revolution nicht zum geringsten
Cheil durch die leitres de cachet (Verhaftungsbefehle) vorbereitet,
zurch welche Personen jeden Standes ohne Weiteres in die Bastille
»der andere Gefängnisse wanderten. Was bedeuten aber diese
ettres de cachet gegen die Zahl der Verbannungen und Ein—
erkerunigen, welche in Rußland auf administrativem Wege vorge—
nommen wurden, ohne daß man die Betroffenen vor ihren ordent⸗
ichen Richter stellte? Unter Ludwig XVI. fand die Bewegung
der Geister Nahrung in der Uneinigkeit des königlichen Hauses,
n den Intriguen eines Herzogs von Orleans; die Nachrichten der
etzten Tage wissen von ernstlichen Zerwürfnissen des Kaisers
Alexander III. mit seinem Oheim Constantin und von der plötz-
ichen Abreise des Letzteren ins Ausland zu erzählen.
In Frankreich hatte das Königthum durch eine maßlose Geld—
oerschwendung, sowie durch auswärtige Kriege das Land erschöpft;
nan lebte am Hofe in den Tag hinein, daher das Wort Lud—⸗
wigs XV.: aprôs nous le déluge (nach uns die Sündfluth).
Rußland hat durch die Einfädelung des türkischen Krieges in den
letzten Jahren noch gezeigt, daß trotz des fortwährenden Defizits
in seinen Finanzen Ruhm und Vergroͤßerungssucht der herrschenden
dlasse mehr gelten, als Fortschritt im Innern.
Nimmt man dazu die sprichwörtliche Bestechlichkeit der Be⸗
amten, sowie den halbbarbarischen Charakter der Russen, so be⸗
zreift man, wie es möglich war, daß die nihilistische Partei solche
lusdehnung gewinnen und auch auf den Weg des raffinirtesten
berbrechens sich verirren konnte.
Ludwig XVI. suchte den drohenden Zusammenbruch des
Staatsgebäudes durch Zusammenberufung der Generalstaaten (états
zeneraux, gleich unserm ehemaligen „vereinigten Landtag“) zu
»erhüten; lange vorher aber hatten die ausgezeichnetsten Geister
zurch ihre Schriften den Boden vorbereitet, auf dem die Dis—
ussionen stattfinden mußten. Das nihilistische Exekutiv-Komitee
derlangt in seiner neuesten Proklamation ebenfalls einen gesetzgeben⸗
den Koͤrper, der aus allgemeinen und durchaus freien Wahlen her—⸗
orgehen soll. Der Unterschied gegen das französische Beispiel be—
teht aber darin, daß das russische Volk in seiner breiten Masse
aum eine Ahnung hat von den Forderungen und Zielen, welche
die geheime Propaganda hinstellt. Sodann besteht die russische
Bevölkerung aus einigen sechzig Nationen, die sich durch das Medium
ver russischen Sprache gewiß nur unvollkommen ohne Dolmetscher
n einem Parlamente verständlich machen können. Würde nicht eine
solche Kammer wahrscheinlich das Ebenbild der entschlafenen tür⸗
ischen werden? Oder aber, was noch schlimmer, sollte dieselbe nicht
den Tummelplatz für die extravagantesten Bestrebungen abgeben
onnen? Wird dagegen die Forderung der Milberathung des Volkes
um den Staatsgeschäften verweigert und glaubt man durch allge⸗
neine europäische Maßregeln gegen die Nihilisten die von denselben
ungedrohten Verbrechen zu verhülen, so bleibt der schreckliche Zustand
des Hangens und Bangens in schwebender Pein“, der doch nicht
ewig dauern kann.
Die Parallele zwischen dem Frankreich Ludwigz XVI. und
dem Rußland Alexanders III. ließe sich wohl noch weuer ausspinnen.
Aber wir wollen hoffen, daß dem 19. Jahrhundert jene Katastrophe
m Osten erspart bleibe, mit welcher das 18. Jahrhundert im
Westen zur Rüste ging. —
Deutsches Reich.
GBayerischer Landtag.) Wie man hört, ist nicht zu
rxwarten, daß die Kammer der Reichsräthe dem von der Mehrheit
Rechte) der Abgeordnetenkammer angenommenen Antrag des Abg.
Freiherrn v. Hafenbrädl, die Aufhebung des siebenten Schuljahres
zett., ihre Zustimmung geben werde. — Der Antrag des Reichs-
raths Grafen v. Ortenburg zu dem Gesetzentwurf über die Capital-
rentensteuer, wonach namentlich die Steueranlage bei einer Jahres-
tente von mehr als 1000 M. nicht 80, sondern 4 pCt. betragen
oll, findet, wie versichert wird, mehrfachen Widerspruch, und es ist
aoch zweifelhaft, ob er in der Kammer der Reichsräihe zur An—
aahme gelangen wird. — Der Steuergesetzausschuß der Kammer
der Reichsräthe hat die zweite Lesung des Gesetzeniwurfs über die
inkommensteuer beendet, so daß derselbe unmiitelbar nach Ostern
in der Kammer selbst berathen werden kann.
Der „Provinzial⸗Correspondenz“ zufolge ist die Abreise des
Kaisers von Berlin nach Wiesbaden für den 23. April in Aus—
icht genommen; der dortige Aufenthalt werde voraussichtlich bis in
das erste Drittel des Mai dauern, worauf in Berlin und Umgegend
militärische Vorstellungen und Uebungen stattfinden würden.
Wie man hört, hat der französische General Pittid auf
seiner Durchreise nach Petersburg zu den dortigen Leichenfeier⸗
ichkeiten, von Grevy den direkten Auftrag erhalten, in Berlin
»eim Kaiser und dem Reichskanzler vorzusprechen und dieselben der
Freundschaft Frankreichs zu Deutschland zu versichern.
Die „Kreuzztg.“ bringt folgenden beachteuswerthen Artikel
iber Deutschlaunds Verhalten in der Tunis⸗Frage:
„Wir halten dafür, daß die deutsche Regierung in der tunesischen
Angelegenheit, soviel als möglich, die Absichten Frankreichs fördere
und namentlich allen Versuchen, die afrikanische Stellung Franf—
reichs zu gefährden, mit moralischen Mitteln entgegentrete. Ueber⸗
Jaupt sehen wir keinen Grund, deßhalb, weil möglicherweise die
cranzösische Politik künftig einmal eine Wendang gegen das deui—
che Interesse nehme, ihren berechtigten Ansprüchen und in anderer
Beziehung entgegenzutreten, und in der iunesischen Angelegenheit
halten wir die französische Politik für wesentlich berechtigt.“
Das Gesetz, betreffend die Abänderung des Gerichts⸗
kostengesetzes und der Gebührenordnung fuͤr Gerichtsvollzieher,
ist dem Reichstage seitens des Reichskanzlers vorgelegt worden.
In Hamburg stimmte die Mehrzahl der Mitglieder der
Vertrauenskommission der Bürgerschaft der Eröffnung formeller
Verhandlungen über die Bedingungen des eventuellen Zollanschlusses
Hamburgs zu.
Ausͤland.
Das österreichische Herrenhaus hat das von der klerikal—
zechischen Majorität des Abgeordnetenhauses geplante Attentat gegen
die achtjährige Schulpflicht abgewehrt. Dieser Beschluß hat in den
Wiener liberalen Kreisen große Genugthuung hervorgerufen. Be⸗
onders Aufsehen erregt die bei dieser Gelegenheit gehaltene Rede
des früheren Ministers Unger. Die Organe der Rechien sind sehr
berstimmt. Die Czechenblätter zeigen sich mit der Regierung,
aamentlich mit dem Unterrichts-Minister, höchst unzufrieden.
Eines der interessantesten Ergebnisse der tunesischen Angele⸗
zenheit ist, daß die Schlagfertigkeit der franzssischen
Armee nunmehr ihre ernsthafte Probe zu bestehen hat. Die
chöngefärbten oder bissigen Manöverberichte der letzten Jahre
varen kaum geeignet, eine richtige Vorstellung von den Fortschrit⸗
en der französischen Heeresverwaltung zu gewähren. Die Voss.