Full text: St. Ingberter Anzeiger

ðSt. IJugberter Amzeiger 
Amtliches Organ des königl. Amtsgerichts St. Ingbert. 
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M 171. 
Samstag, 22. Ottober 1881. 
16. Jahrg. 
Herr Oskar Kraemer, Hüttenwerksbesitzer in St. Ingbert, 
Reichstagskandidat der reichstreuen freisinnigen Partei des Wahlbezirks Zweibrücken-Pirmasens. 
* Zaftpflicht und Unfallversichernug. 
Die Frage der Arbeiterversicherung wird bekanntlich 
chon seit längerer Zeit vielfach in der Presse und 
on Fachleuten besprochen, und hat auch schon der 
teichsstag sich mit dieser Angelegenheit, wenn auch 
loch ohne positives Resultat, beschäftigt. Inmitten 
»er Erörterungen, welche durch die Nachrichten über 
zie sozialpolitischen Pläne des Reichskanzlers her⸗ 
„orgerufen worden find, verdient die Aufmerksam⸗ 
eit besonders auf die Arbeit eines Nationalöko— 
omen, Professors Held, gelenkt zu werden. 
Was nach Professor Held bis jetzt einer durch⸗ 
zreifenden Reform des bestehenden Hajtpflichtgesetzes 
jindernd in den Weg trat, ist zum Theil der 
Mangel an einer zuverlässigen Unfallsstatistik, welche 
dlage in den Berichten der Fabrikinspektoren immer 
oiederkehrt. Es wird in einer Anzahl von Fällen 
iffermäßig nachgewiesen, daß die zur Kenntniß der 
Zehörden und Inspektoren gekommenen Unfälle 
nuch nicht annähernd der Wirklichkeit entsprechen 
önnen, daß somit die Anzeige-Verpflichtung ein 
ebot der dringendsten Nothwendigkeit sei, und es 
t darum anzuerkennen, daß die preußische Re— 
zierung in dem im vorigen Jahre veröffentlichten 
Hesetzenwurf betreffend die Anzeige der in Fa— 
xrxiken und ähnlichen Betrieben vorkommenden Un—⸗ 
alle, einen Schritt nach Vorwärts in dieser Be— 
ehung gethan hat. 
Was nun aber die ausreichende und wirksame 
zursorge für alle Diejenigen, welche im engeren 
Sinne als Invaliden der Arbeit zu betrachten, d. h. 
m Industriebetriebe verunglückt sind, anbelangt, so 
eistet das Haftpflichtgesetz von 1871 eben noch 
mmer nicht, was Noth thut, wie aus der Vor— 
chrift des Gesetzes, daß der Unternehmer nur für 
„en durch das eigene Verschulden seiner Bevoll⸗ 
nächtigten entstandenen Schaden haftet, hervorgeht. 
Brofessor Held nimmt nun in seiner Arbeit an, 
zaß in Folge dessen drei Riertel aller verunglücken⸗ 
»en Fabrikarbeiter keine Entschädigung bekommen, 
ind führt darum aus, daß in diesen Fällen schon 
inser sittliches Gefühl verlange, daß die Industrie 
ils solche, deren Einrichtung im Einzelnen oder 
Hanzen an den Unglücksfällen schuld ist, für die 
Sache auffomme. Vom rechtlichen Standpunkte 
wuus betrachtet, geht diese Forderung allerdings zu 
veit, da man doch nicht in allen Fällen den Ar— 
„eitgeber für die durch grobe Fahrlässigkeit seitens 
zes Arbeiters entstandenen Schäden und Unglücks- 
älle verantwortlich machen kann, aber vom allge— 
nein menschlichen Standpunkte aus ist der jener 
zrorderung zu Grunde liegende Gedanke nicht ganz 
u verachten, und verdiente deshalb maßgebenden 
Orts eine nähere Prüfung. Weiter kommt dann 
Brofessor Held in seiner Arbeit auf die aus dem 
daftpflichtgesetze zwischen Arbeitgebern und Arbeit— 
ehmern entstehenden Prozesse zu sprechen und 
ommt dabei zu dem Schlusse, daß in den Prozessen 
ver verunglückte Arbeiter seine Rechte oft sehr schlecht 
vahrnehmen kann, denn die Frage, ob der Verun— 
zlückte ganz schuldlos an seinem Unglück war, läßt 
ich oft gar nicht positiv bejahen oder verneinen. 
da nun die Frage der Unfallversicherung vielfach 
ait derjenigen der Haftpflicht identisch ist, so gilt 
⸗Mhier offenbar, durch das vom Reichskanzler ge⸗ 
zante Unfallbersicherungsgesetz die Mängel der 
aftpflicht zu beseitigen und zwar sowohl im In⸗ 
eresse der Arbeiter, als auch der Arbeitgeber und 
»er Gemeinden, die ja bekanntlich auch oft die 
Unterstützung verunglückter Arbeiter übernehmen 
nüssen, wenn nach dem Haftyflichtgesetz der Arbeit- 
seber nicht zur Zahlung einer Entschädigung an 
en verunglückten Arbeiter herangezogen werden 
onnte. Die Unfallversicherung für Arbeiter ist da— 
jer außerordentlich wichtig für alle Betheiligten und 
uch für den Staat und die Gesellschaft und wollen 
oir hoffen, daß diese in Fluß gebrachte Frage in 
ommender Reichstagssession ihre gedeihliche Lösung 
inde. 
3. W. P. RVom bayerischen Landtag. 
Alle Anzeichen sprechen dafür, daß wir diesmal 
iner gewitterreichen Parlaments-Saison entgegen— 
ehen, welche die ungemein üppig aufgeschossene 
Zaat des Finanzbudgets und seiner zifferschweren 
lehren bedenklich bedräut. Zwar hat Finanzmini— 
ter v. Riedl, — nebenbei bemerkt, der troß seines 
eiklen Ressorts beliebteste Minister und so zu sagen 
ersona grata der Kammer — in seinem jüngsten 
iplomatisch feinen Finanzexposé in Voraussicht der 
dinge, die da kommen werden, versichert: was die 
egierung verlangt, fordert sie einzig im Inter— 
sse des Landes, rum einerseits un abweis- 
iche rechtliche Verpflichtungen (Militär⸗ und Ma— 
rikular⸗Ausgaben) zu erfüllen, anderseits um den 
Zedürfnissen der Verwaltung, sowie der Erhaltung 
ind Pflege der für Staat und Volk nothwen digen 
finrichtungen Rechnung zu tragen. Allein — es 
as't der See und will sein Opfer haben. 
Von dem Plane einer allgemeinen Steuer— 
verweigerung ist man seitens der Oppositions⸗ 
jartei von vornherein wieder abgestanden, weniger 
ius Besorgniß vor einer eventuellen Reichs-Exeku⸗ 
ion, als aus Gründen der Loyalität und Legali— 
ät; auch die Idee einer allgemeinen Mandatsnie— 
erlegung wurde wieder fallen gelassen, und zwar 
ibgesehen von der sehr fraglichen Verfassungsmäßig⸗ 
eit eines solchen folgenschweren Schrittes aus 
zweckmäßigkeitsrüchsichten. 
Dagegen hat die von der Berliner „Germania“ 
n Vorschlag gebrachte Aushungerung des 
etzigen Systems durch möglichst weitgehende 
bstriche an den Regierungspostulaten, namentlich 
eim Kultusbudget, seitens der Kammermajorität 
ngetheilten Beifall gefunden. Hierin werden die 
Extremen“, „Patrioten“ und „Konservativen“ Hand 
n Hand gehen und so vereint das Jahrhundert, 
ardon: den Kultusminister Dr. v Lutz, in, die 
z„chranken fordern. 
Dieser seit dem Regierungsantritt des Königs 
is zum heutigen Tage im ungeminderten Strahl 
llerhöchster Huld und Gnade verharrende Staats— 
iann ist gleichvohl — im Gegensatze zu seinem 
rinanzkollegen — der bestgehaßte Minister und 
ann sich in dieser Beziehung mit dem erhabenen 
zorbild des deutschen Kanzlers trösten, dem be— 
unntlich das gleiche Loos beschieden. Er ist das 
'pfer, welches sich der „rasende See“ auserkoren, 
ind wie in gewissen nordischen Kreisen der Ruf 
rschallt: „Fort mit Bismarck“, so lautet hier die 
echtsseitige Parole: „Fort mit Lutz, fort mit dem 
eutzianismus!“ 
Um nun dies zu ermöglichen, soll an dem von 
hum vertretenen Kultusbudget so viel gestrichen und 
eschnitten werden, daß der auf's Aeußerste gebrachte 
Minister endlich ausruft: „Jetzt mag ich nimmer!“ 
Ddas heißt man Aushungerung des Systems. 
Ob dieser herbeigesente kritische Moment eintre— 
en wird, ist freilich eine andere Frage, an dem 
jzuten Willen der Rechten wird es wahrlich nicht 
ehlen. 
Ueber die Einigkeit und Solidarität der rechts⸗ 
eitigen Kammermehrheit ist in den jüngsten Tagen 
diel herumgestritten worden, zumal seit ein Ange— 
jöriger der extremen Fraktion zum Referenten für 
den Kultusetat ernannt worden ist. Ging man ja 
voch so weit, zu behaupten, die Fraktion der Rech— 
en habe sich ohne allen Vorbehalt dem Kultusrefe— 
enten Dr. Rittler zur Verfügung gestellt, so zu 
agen als rein mechanische Abstimmungs maschine. 
Dieser Behauptung wird jedoch in der von einem 
influßreichen Kammermitglied inspirirten „Donau⸗ 
ztg.“ bestimmt entgegengetreten. Hiernach verfügt 
dr. Rittler blos über ein prinzipielles Zugeständniß, 
ahin gehend, daß der eine oder andere Posten im 
zudget aus politischen Erwägungen gestrichen 
verden kann. Dieses Prinzip wurde in der Frak—⸗ 
ion ohne Widerspruch proklamirt, eine Abstimmung 
nittelst Namensaufruf hat aber nicht stattgefunden. 
Wenn sich die Sache in Wirklichkeit so verhält, 
zann dürfte der Mahr'sche Viktoria-Marsch denn 
zoch etwas zu früh an die Oeffentlichkeit getreten 
ein, oder om Ende gar — an den Minister zu 
dressiren sein. 
Unter den zunächst vor das Steuerplenum gelan⸗— 
jenden Gegenständen wird wohl der Militäretat 
zie erste Stelle einnehmen, über welchen vorerst der 
Finanz-Ausschuß sich schlüssig zu machen hat. 
Das ewige Rebhuhn im Landtags-Menu bildet 
zekanntlich die Frage vom 7. Schuljahr, 
eren unverdrossener und lungenkräftiger Anwalt, 
derr Baron von Hafenbrädl, auch diesmal wieder 
— wenngleich ohne jede Aussicht auf ein positives 
Resultat — den so oft schon eingebrachten Autrag 
Jegen das 7. Schuljahr produziren wird. 
Außerdem steht aber noch ein ganz besonders 
vichtiges Berathungsthema in Sicht, nämlich die 
Biedereinführung der Lotterie in 
Zayern. Der Vertreter dieses interessanten Pro— 
ektes ist der allzeit plänereiche Kammerodysseus Dr. 
Schels, welcher bereits in der verwichenen Budget⸗ 
jeriode zur Vorbeugung des unvermeidlichen Defi— 
its den diesbezüglichen Antrag einbrachte, aber mit 
)emselben an allerhand sozialmoralischen Bedenken 
der damals noch nicht so finanziell bedrängten Kam— 
ner scheiterte. Damals freilich hat dieselbe dem 
lassischen non odet“ ein bajuwarisches: „und 
s riecht doch!“ entgegengestellt trotz dem sonst 
mmer als Muster und Vorbild vor Augen gestell⸗ 
en preußischen Finanzgebahren und seiner unent⸗ 
»ehrlichen Staatslotterie. 
Heute ist die Lage eine prekärere geworden und 
verden vielleicht die sittlichen Motive nicht so schwer 
n die Wagschale fallen. Das Lotteriewesen ist 
inmal nicht aus der Welt zu schaffen. Beweis da⸗ 
ür die endlose Reihe von Lotterien für wohlthätige 
Zwecke ꝛc., durch deren Gestattung der Staat die⸗ 
elbe Gewinnsucht fördert, welche er durch Aufhe⸗ 
»ung der, Klassenlotterien bekämpfen wollte, ein 
estens gemeinter Versuch, der ohne seinen Zweck 
u erreichen, nur auswärtigen Unternehmungen ähn— 
icher Art zu statten kommt.