Amtliches Organ des königl. Amtsgerichts St. Inabert.
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A B3
Samstag, 12. Juli 1884.
19 Jahrg.
X
Das Vagabundenwesen.
Nachdruck verboten.
Kurz nach dem französischen Kriege, inmitten
)es Milliardenzaubers der Schwindeljahre und nach
dem Verrauschen dieses Zaubers, sowie in dem
darauf folgenden wirthschaftlichen Niedergange des
deutschen Volkes nahm das Vagabundenwesen einen
janz ungeheueren Umfang an. (Mit dem Worte
Vagabunden“ soll hier gleichbedeutend sein: Land⸗
treicher, Stromer, Wanderbettler ꝛc.) Insonderheit
varen es damals die wohlhabenden Ackerbaugegen⸗
jen, die unter dieser sozialen Krankheit zu leiden
satten und in einer Weise von den Bettlern über—
chwemmt wurden, daß allseitig Stimmen um ge—⸗
egliche Unterdrückung dieses Zustandes laut wurden.
Am stärksten aber war und ist noch heute das
Bettlerwesen entwickelt in den katholischen Ländern,
bdesonders in der Nähe von reichen Klöstern und
Stiftungen, am wenigsten ausgebreitet ist das Va⸗
gabundenwesen im europäischen Rußland und in der
Fürkei.
Das Beitelwesen und Landstreicherthum ist aber
wuf die ältesten Zeiten zurückzuführen, und nur
nach den von Avé Lallemente(, Deutsches Gauner⸗
hum“ T. 1 S. 13) angeführten namhaften
Schriftstellern soll es mit Aufhebung der Sklavberei
ufolge der Einführung des Christenthums entstan—
yen sein. Es ist diese Annahme insofern unwahr⸗
cheinlich, als auch den antiken Völkern weder das
Wort noch der Begriff des Bettelns fehlt und so—
nach viel früher als das Christenthum das Beitel⸗
wesen seinen Ursprung haben dürfte.
In Deutschland wurde es als ein zu bekämpfen⸗
ees össentliches Uebel schon im Reichsabschiede von
1512, dem Landfrieden von 1551 und der Reichs—
volizeiorduung von 1577 verboten. In Sachsen
tellte man das zwecklose Umherziehen, verbunden
nit Betteln, durch die Armenordnung vom 22.
Ottober 1840, 8 119 flg., unter Strafe, wie
endlich im Deutschen Reiche das Landstreichen und
ind Betteln nach 8 861, Absatz 3 und 4 und 8
2 des Strafgesehbuches bestraft wird.
Der Höhepunkt dieses Nationalübels fiel in das
dahr 1878 und dir erste Hälfte des Jahres 1879
titdem ist eine langsame Abnahme eingetreten.
Aber immer noch ist die Zahl der Wanderbettler,
»ie zur Zeit in Deutschland herumschweifen, eine
janz enorme, und es ist die Zahl 200,000 sicher
her zu niedrig, als zu hoch gegriffen. Und diese
200,000 Bettler bestreiten ihten Unterhalt einzig
und allein aus den Taschen der seßhaften Bevölte.
uuug. Genau jedoch die Zahl der sich vagabun—
erend umhertreibenden Individuen anzugeben, ist
»eshalb unmöglich, weil eine genaue Vagabunden⸗
tatistkk fehlt, und so kommt es, daß don manchen
Ne Zahl als zu niedrig, von anderen als zu hoch
egriffen wird. Dem sei jedoch, wie es wolle, so
iel steht unbedingt fest, daß das Heer von Strol⸗
hen und Bettleru immer noch ein morm großes
st und durch seine Quantität wie Qualitaäͤtgroße
astiungen und Schäden verursacht, ja für den
inzelnen, wie für das Gesammtwohl ganz erheb⸗
e Gefahren in sich birgt.
Hauptsächlich sind die reichentwickelten Industrie—
egenden Anziehungspunkte sowohl für den wirk—⸗
hen Arbeitsuchenden, als auch für den Stromer
Wwesen, und die so oft in den Zeitungen gegebenen
Shilderungen von den sogenannten „armen RKeisen⸗
eu“, welche truppweise Stadt und Dorf durch—
giehen. bald in bitfendem. hald in droh ndem 3
milde Gaben erheischen und gelegentlich auch vor
Bewalt und Verbrechen nicht zurückschrecken, sind
eider die nackte Wahrheit. Das Beitlerwesen aber
hat seine Umwandlung. Von Stufe geht es zu
Stufe auf abschüssiger Bahn. Erst Bettler, dann
Dieb, Brandstifter, Raubmörder und Mordbrenner.
AD
andere nicht inmitten dieser Verbrecherlaufbahn selbst
seinem Leben, das ihn vielleicht anekelt, ein frei—
williges Ziel setzt. Und wahrlich, nicht zu schwarz
ist hier geschildert. Wer, wie der Verfasser, in
'angjährigem Kgl. Polizeidienste einer Residenzstadt
das Vagabundenwesen studieren könnte, wer den
heranreifenden Bummler und Verbrecher beobachten
tann, der kann jedem Einzelnen das Ende beim
Anfange der Bettlerlaufbahn voraussagen. Oder
man gehe in die Krankenhäuser, wo diese Gestalten
von ihren Strapazen ausruhen, oder man besuche
die Herbergen, wo die Vagabunden nächtigen, dort
ist dazselbe Bild. Lumpen, Schmutz, Ungeziefer
und als einzige Habe — die Branntweinflasche.
Keine Altersklasse, vom 14. Lebensjahre ab gerech⸗
net, ist unvertreten, denn der kaum der Schule
entwachsene Bursche zieht ebenso zweck⸗ und ziellos
durch die weite Welt, wie der heimathslose Greis.
Auch jeder Stand ist vertreten, vom akademisch ge—
bildeten Mann herab bis zum gewöhnlichen Tag—
arbeiter, vom ehemaligen Offizier bis zum Hand⸗
werker, und „reisende“ Juristen und Kaufleute
inden sich ebenso, wie „reisende“ Handwerker.
dierfür giebt die Statistik der Korrektions- und
Strafanstalten den genauesten Nachweis. Die Zahl
der im Jahre 1880 in Sachsen wegen Bettelns
und Landstreichens zur Bestrafung gelangten Indi⸗
bdiduen belief sich auf ca. 14,000, und in das
neue Finanzbudget für Sachsen ist ein Berechnungs⸗
geld von 450,000 Mark für Landarme einzufstellen
Jewesen.
Sind diese Zahlen nicht enorme zu nennen,
und von welcher Seite und wie möchte hier abge—
holfen werden?
Die letzten deutschen Armenpflegerkongresse be⸗
schäftigten sich sehr lebhaft mit dieser Frage, und
auus manch bewährtem Munde sind Maßregeln gegen
diese soziale Krankheit aufgestellt worden. Ein
Theilnehmer des Kongresses nannte die wandernden
Bettler „eine einzige schmutziggraue Masse!“ Wahr—
lich eine höchst zutreffende Bezeichnung.
In der Hauptsache jedoch ist das Publikum
elbst schuld an diesem Uebel, und zwar durch das
'ortwährende Unterstützen dieser sogenannten „armen
Keisenden“. Wollte nur das große Publikum die
'alsche Mildthätigkeit beiseite liegen, dann würden
ehr bald die Tausende von herumziehenden Bettlern
uind Strolchen, die Jahr aus Jahr ein die deutschen
dande brandschatzen, zu einem winzigen Häuflein
usammenschrumpfen, ferner würden die durch das
Lagabundenleben entstehenden Verbrechen abnehmen
ind die Zuchthäuser ent völkert werden.
Eine nicht minder wichtige Aufgabe im Kampfe
gegen das Bettelwesen haben die Gemeinden zu er—
üllen. Die strengste Ueberwachung der Herbergen
sollte einem jeden Gemeindevertreter zur Pflicht ge—
macht und etwaige Nachlässigkeiten von der betreffen⸗
den Oberbehörde geahndet werden.
Eine weitere Herabsetzung der Bettlerlegionen
wvürde in Bestrafung der Trunksucht liegen. Wo
Aas ist, sammeln sich die Geier, wo es Schnaps
ziebt, stellen sih die Vagabunden ein. Deshalt
zermindere man die Zahl der Schnapskneihen und
Gastwirthschaften. Viel, ungeheuer viel tragen diese
zur Vermehrung des Vagabundenwesens bei.
Ferner ist der gegenwärtige ungeregelte Zustand
des Ligitimationswesens der wandernden Arbeiter
ein mächtiger Förderer des Landstreicherthums. In
großen Massen werden jetzt solche getroffen, die gar
keine Legitimation haben oder nur ein die Personen—
identität in keiner Weise verbürgendes Arbeitszeug—
niß. Schließlich werden von allen Polizeiorganen
fast tagtäglich Personen mit gefälschten Zeugnissen
aufgegriffen.
Alle diese vorgedachten und noch viele andere
Punkte sind es, welche die Zahl der Vagabunden
bermehren und es ist dringend erwünscht, daß nicht
nur durch Anwendung der energischsten Mittel
dieser Landplage Einhalt gethan wird, sondern daß
auch unmittelbar auf Hebung der Sittlichkeit unseres
Volkes mehr als bisher ein schweres Gewicht gelegt
wird. H. W
Innung und „Berufsgenossenschaft.“
Sechs Jahre dauerte der Kampf um den 8 1000
der Gewerbeordnung, bis es der Reaktion gelingen
konnte, an dieser Stelle eine Bresche in unsere
Bewerbefreiheit zu schießen. Die Verantwortung
für diesen traurigen Erfolg fällt auf die freikon—
servative Partei, welche die Sache an sich nicht
für so wichtig hielt, daß um ihretwillen den Deutsch-
konservativen die kleine Gefälligkeit versagt werden
durfte. Auch meinte sie den Freundschaftsdienst
um so weniger versagen zu sollen, als er praktische
Folgen ja gar nicht haben werde. Daß der
Bundesrath sich sein⸗ entgültige Entschließung über
den mit vier Stimmen Mehrheit gefaßten Beschluß
des Reichstages noch bis zum Herbste vorbehalten,
kann als ein Fallenlassen jenes Antrages ja noch
nicht betrachtet werdenu. Sollte aber der Beschluß
Gültigkeit erlangen, dann hätte es diejenige konser—
bative Richtung, welche sich den Charakter einer
freiheitlichen im Namen nach beileat. — „herrlich
weit gebracht.“
Die Gründe für und wieder schienen sich im
Jahre 1883, als der Sturm gegen den 8 10060
zum dritten Male abgeschlagen war, vollends er—⸗
schöpft zu haben. Die Regaktion hatte Farbe be—
kannt, indem sie unter den Handwerksmeistern so⸗
wohl, wie im Parlamente oͤffen aussprach, daß
diese Einschränkung der Gewerbefreiheit nur der
ersie Schriti zur Beseitigung dieser ganzen großen
siberalen Errungenschaft bedeute. Die liberale
Parten hatte ebenfalls klar gelegt, wie sie den ge⸗
werblichen Interessenfragen gegenüberstehe. Es ist
wohl nützlich, diesen Standvunkt nochmals kurz
zu bezeichnen.
Der Wiederbelebung des Innungswesens war
der in der nationalliberalen Partei vertretene Libe—
ralismus niemals abhold. Er hat durch seine Be—
mühungen um das bekannte Osnabrücker freie
Innungsstatut genügend bewiesen, daß ihm das
Streben nach einem Zusammenschluß auch der ge—
werblichen Berufsgenossen zweckmäßig und förderns-
werth erscheint. Er hat es verschmäht, diejenigen
Parteien, welche so laut nach den veralteten Formen
des Zunftwesens verlangten, um ihre Berechtigung
zu befragen, obwohl es nahe lag, den Abgeordneten
aus den Heimstätten des Großgrundbesitzes oder
aus den Kreisen der konfessionellen Verbissenheit
das Verstandniß und die Berechtigung zur Wahrung
des mittleren und kleineren Gewerbestandes abzu—
sprechen. Es hat jenen Liberalismus immer nur
die aus der Geschichte und dem gegenwärkigen