Full text: St. Ingberter Anzeiger

die Arbeiterinnen ausgedehnt erscheint. Denn inner— 
halb der prämienpflichtigen Berufsgenossenschaften 
wird der Beitrag nach Maßgabe ver Lohnhöhe sowohl 
wie der Gefahrenklasse umgelegt. Es ist also recht 
wohl denkbar, daß ein oder andere Unternehmer 
trotz der wichtigen sozialen Forderung nach Ein— 
schränkung der Erwerbsarbeit der verheiratheten 
Frauen in den Gewerben doch die größere Rücksicht 
darauf nimmt, sich durch billigere Lohnsätze eine 
geringere Prämie zu erhalten. Einer solchen Tendenz 
aber vermag der Arbeiter selbst entgegenzuwirken, 
insofern er die Arbeit seiner Frau überhaupt nicht 
mehr „auf den Markt kommen“ läßt; und er hat 
dies in Zukunft in der Hand, weil er zur Unfall⸗ 
versicherung selbst keinen Beitrag mehr zahlt, seine 
eigene Arbeit also ihm nicht durch die Unterhal⸗ 
tungskosten seiner etwa Hinterbleibenden vertheuert 
wird. Versteht er nur sein Interesse recht (und 
eine durchgreifende Belehrung darüber kann nicht 
ausbleiben), so bietet ihm der neue Versicherungs⸗ 
plan die denkbar günstigte Handhabe zu einer 
ganz bedeutenden Aufbesserung seines Familienlebens. 
Eines freilich bleibt wesentliche Voraussetzung 
für den gewünschten Erfolg: Das ist die Stetig⸗ 
keit der Arbeitsgelegenheit für die prämienpflichtigen 
Betriebe selbst. Nur unter dieser Voraussetzung 
erscheint uns auch die Möglichkeit vorhanden, daß 
die Industrie die ihr auferlegten neuen Lasten auf 
die Dauer ertragen kann. Zumal, wenn mit der 
Unfallversicherung in Bälde die laut kaiserlicher 
Botschaft versprochene Invaliden-Versicherung sich 
paaren soll. Gerkrath weist ziffernmäßig nach, daß 
bei jeder Verschlechterung der Arbeitsgelegenheit ein 
starkes Drüngen zur Invalidisirung erkennbar wird, 
während bei steigender Conjuctur und höheren Ar⸗ 
beitslöhnen die älteren Arbeiter von den höheren 
Löhnen Nutzen ziehen wollen, so lange es ihre träfte 
irgend erlauben. In Ermangelung einer Inva⸗ 
liden⸗Versicherung würde bei sinkender Conjunktur 
der Versuch nicht ausbleiben. rechtzeitig der Kranken⸗ 
oder Unfallkasse zur Last zu fallen, ehe die in der 
Luft liegende Entlassung aus der Arbeit alle Rechte 
an diese Kassen aufzuheben vermöchte. 
Eine Gefahr, daß mit der größeren Sicherheit 
der Versorgung auch die Unfälle zahlreicher werden 
könnten, haben die Verfafser des Entwurfs offenbar 
vorhergesehen. Die Motive lassen erkennen, daß 
durch die erhöhte Mitwirkung der Arbeiter selbsi 
in Bezug auf Schutzvorrichtungen und die einschlägige 
LControle innerhalb der Vetriebe dieser Gefahr be⸗ 
gegnet sein soll. Wir hoffen allerdings, daß die 
Erwartungen hierüber nicht getäuscht werden, können 
aber nicht verhehlen, daß uns aus Kreisen der 
Großindustrie gerade das Gegentheil als Befürch⸗ 
tung ausgesprochen wird. 
Was nun die Aufbringung der Versicherungs⸗ 
lasten betrifft, so hat der Entwurf für die nächste 
Gegenwart leichte Arbeit geschaffen. Der jeweilig 
angefallene Jahresschaden wird ohne Ansammlung 
einer Prämienreserbe umgelegt. Für die ersten 
Jahre ist dabei eine Ueberbürdung natürlich nicht 
zu erwarten. Aber wie steht es mit den Zukunfts⸗ 
verbindlichkeiten ? Die Gegenseitigkeits -Versicher⸗ 
ungsanstalten, welche hier lediglich in Vergleich 
kommen können, haben die Erfahrung erbracht, daf 
die Leistungen der Kasse, alss auch die Ansprüche 
an die Versicherungsnehmer, fortschreitend in Steige⸗ 
rung bleiben. Es ist nicht anzunehmen, daß sich 
bei den berufsgenossenschaftlichen Verbänden die 
Sache anders gestalten wird. Ob es deshalb rich⸗ 
tig, war, jede Prämienreservirung und damit jede 
Zinscalculation als entbehrlich zu betrachten, muß 
uns Herr Dr. Schäffle erst noch beweisen, der den 
Reichskanzler auf diesen Gedanken gebracht hat. 
Auch hier waren aber die Verfasser des Entwurfs 
offenbar ihrer Sache nicht ganz sicher. Sie haben 
den Fall vorgesehen, daß Berufsgenossenschaften 
leistungsunfaähig werden. Dann soll die Reichskasse 
—V 
kommen, bis die Verschmelzung der einzelnen Ge—⸗ 
nossenschaftsbetriebe mit kraͤftigeren Verbänden sich 
thunlich erwiesen hat. Wir sind weniger zuver⸗ 
sichtlich der Meinung, daß dieser Fall kaum ein⸗ 
treten werde, glauben vielmehr, daß er nach 
Jahr und Tag sogar zur Regel werden wird. 
Es fragt sich da nur, ob die gegenwärtige Gene⸗ 
ration für jene Zukunftsverbindlichkeiten haftbar 
gemacht werden darf, und mit der Bejahung dieser 
Frage ergiebt sich die Nothwendigkeit der Berech⸗ 
nung wahrscheinlicher Risiken, der Hinterlassung 
und bankmäßigen Zinsverwerthung von Prämien- 
Reserven ganz von selbst. Sache des Reichsstags muß es 
sein, den & 6 Absatz 2, welcher die Uebernahme jener 
Verpflichtungen auf das Reich ausspricht, auf das 
Bründlichste zu prüfen, und unter Umständen durch eine 
Bestimmung zu ersetzen, welche die Bildung von 
Reserve⸗Fonds anordnet. Es kann nicht genug 
Sorgfalt darauf verwendet werden, daß die Loöͤsung 
der ganzen großen Frage auf richtigen und dauer⸗ 
jaften Grundlagen erfolgt, damit nicht durch falsche 
Schlußfolgerungen spätere Enttäuschungen und Nach⸗ 
heile unvermeidlich werden. 
AAle und pfalzische Rachrichten. 
* St. Ingbert, 22. Jan. Gestern Abend 
gegen 6 Uhr kam ein Mann, der sich als Dienstknech t von 
Jak. Schmitt von Sengscheid ausgab in, den 
Laden des Herrn Buchbinder Friedrich hier und 
herlangte 15 Mt. für seinen Dienstherrn, um die 
Fracht für eine Lieferung Bier bei der Güter⸗ 
expedition bezahlen zu können. Herr Friedrich, der 
vahrscheinlich etwas Mißtrauen hegte, sandte nun 
einen Lehrling mit den 15 Mk. mit dem angebl 
Dienstknecht an den Bahnhof, um, wenn die ge— 
machten Angaben richtig, dem Dienstherrn Schmitt 
das verlangte Geld zu geben. Auf dem Wege 
nach dem Bahnhofe am Viadukt faßte der vermeint⸗ 
liche Dienstknecht den Lehrling auf der Brust mit 
den Worten: „Jetzt das Geld her, oder ich steche 
dich todt.“ In der Angst um sein Leben lieferte 
der Lehrling dem Angreifer das Geld sofort aus, 
womit dieser das Weite suchte. Ob derselbe Waffen 
bei sich führte, konnte der Lehrling nicht angeben. 
Hoffentlich wird es der Polizei gelingen den 
Straßen⸗ Räuber dingfest zu machen. 
— Kaiserslautern, 19. Januar. Die 
hiesige Düngerfabrik hatte im abgelaufenen Jahre 
so schlechte Preise erzielt, daß nur eine Dividende 
von 22 pCt. zur Vertheilung gelangen kann. — 
In Wald mohr brannte heute früh das Anwesen 
»es Ackerers Guth ab. Der Eigenthümer war zur 
Zeit des Brandes nicht anwesend. 
— Ungstein, 17. Jan. Am letzten Sonn⸗ 
tag wurde in Dürkheim der älteste Bürger, 86 Jahr 
1 Monate alt, zu Grabe getragen. Tags vorher 
zahier der Winzer Lorenz Koch, 83 Jahre 7 Mo— 
nate alt. Ein Altersgenosse, der dem Verlebten 
die letzte Ehre erwies, meinte, nun gehe es an die 
Alten. Auf die Frage, ob denn derselben in 
diesem Alter noch Viele dahier lebten, gab er zur 
Antwort: Er glaube, daß die noch jetzt in hiesiger 
Gemeinde lebenden Achtziger noch mehr als 1000 
Jahre zusammenbrächten. Und richtig, eine Zu—⸗ 
sammenstellung ergab 
l zu 91 Jahren, 
⸗ 87 tr 
36 
33 
—V 83 „7 Mon., 
Summa 12 zu 1014 Jahren. 
Ein anderer hiesiger Siebenziger meinte, diest 
Zahl der Achtziger konne ganz gut aufrecht erhalten 
bleiben, indem sie, die Sirbenziger, die Zahl 1014 
noch überschreiten dürften; und 'richtig ergab die 
vorgenommene Zusammenstellung die Zahl — 
1246 — nämlich 
230 
— 
ren 
4, 70, 
Summa 17 zu 1246 Jahren. 
Wenn man täglich sieht, wie diese Soer — der 
70er nicht zu gedenlen — noch rüsiig ihrer Win⸗ 
zertsarbeit obliegen, ja, wie Schreiber dieses dieser 
Tage einen 84er sah, der frei auf seinem Karren 
stehend nnd vermittelst der Zügel fein Pferd lenkte 
und dabei seine Peitsche knallend wie ein 18.Jähriger 
jandhabte, so weiß man nicht, ob man die Ursache 
dieser außergewöhnlichen Rüstigkeit in dem gesunden 
slima der Gegend oder in dem Ungsteiner Trauben⸗ 
blut — von dem ein Dichter sagt, „daß es vom 
Tod erweckt“ — suchen soll. ( D. A.) 
— In Gleishorbach wird von 9 bis 10 
Personen der Gänsehandel im Großen betrieben 
Fast jeden Tag marschirt, wie man dem „L. A.“ 
chreibt, eine Gänseheerde von 40 —50 Stück im 
Bänsemarsch zum Dorfe herein, ein Treiber mit 
er Peitsche an der Spitze und ein solcher am Ende 
des Zuges. Die müden und lahmen kommen in 
den Rückkorb und werden nachgetragen. Die Händler 
verkaufen wieder an größere Händler aus dem 
Elsaß und diese verbringen sie zum Mästen nach 
Straßburg. Letzteres geschieht vorzugsweise mit 
Welschkorn und mancher hat dort 5—2600 Stück 
einsizen. Jede Woche werden gegen 120 Stück 
gemästeter Gänse aus Straßburg nach Berlin und 
Paris verschickt. Manches arme, magere Westricher 
Bänschen hat sich wahrlich in seiner Jugend nicht 
träumen lassen, daß es später sein „giek, gak“ in 
den Markthallen von Berlin oder Paris hören läßt. 
Ein Großhändler von Straßburg, der kürzlich in 
G. war, suchte mit den dortigen Händlern einen 
Akkord über die Lieferung von 12,000 Gänsen abzu⸗ 
chließen, um sie später nach Ungarn zu liefern. 
Vermischtes. 
F München, 18. Januar. Vor einigen 
Tagen gelang es, einen Hochstabler zu entlarven, 
der in hiesiger Stadt schon seit mehreren Jahren 
den höheren Bettel in großem Maßstabe formlich 
gewerbsmäßig und mit außerordentlichem Erfolge 
betrieben hat. Derselbe, ein ehemaliger Forstge— 
hülfe, dann Geschäftsreisender, Agent, ꝛc. ꝛc. war 
im Besitze eines bis in das Jahr 1878 zurück— 
reichenden, ganz geschäftsmäßig geführten „Ein— 
und Auslauf-Journals“ über die an jedem Tage 
bon ihm geschriebenen Bettelbriefe und bei ihm ein⸗ 
gegangenen Gelder. So sind z. B. verbucht für 
den Monat November vorigen Jahres im Ganzen 
36. Bettelbriefe als Auslauf und M. 14,996 als 
Zinlauf. Der Dezember erscheint mit 92 Bettel⸗ 
briefen und M. 21,077 Einnahme; der laufende 
Monat Januar ergiebt bis zum 15. auf 49 Bettel⸗ 
briefe M. 7040 Einnahme. Unter dem Auslaufe 
befinden sich auch ‚„Monitorien“ eingetragen, welche 
dann zu erfolgen pflegten, wenn ein Bettelbrief zu 
lange unbeantwortet blieb. Alles in Allem hat 
sich der Mann nach Ausweis seiner Bücher seit 
dem Jahre 1879 eine Summe von über 6000 Mk. 
auf diese Weise zusammengebetielt. 
F Augsburg, 21. Januar. Der Mädchen⸗ 
mörder Schenk foll nach hiesigen Blättern verdächtig 
sein, ein hier angestelltes Dienstmädchen Namens 
Spatz aus Schwabmünchen ermordet zu haben, da 
von diesem Mädchen, nachdem es 465 Mk. Anfangs 
1883 als Heirathsgut erhielt, bis heute jede Spur 
fehlt. Schenk hat sich ihr angeblich als Baron 
aus Buckau, Besitzer einer großen Buchhandlung in 
Witn und mehrerer Güter an der russischen Grenze 
vorgestellt. 
In der Gegend von Gefrees bei Hof ver— 
starb vor einiger Zeit ein in sehr guten Verhält⸗ 
nissen sich befindender junger kräftiger Landwirth 
an Blutvergiftung. Er hatte sich an einer Messing⸗ 
schraube der Thuͤre leicht den Finger geritzt und 
war nach wenigen Tagen eine Leiche. 
F Mannheim, 19. Januar. Der Vergolder 
Farl Mildenberger wurde unter dem Verdacht der 
Mitschuld an dem Dynamitattentat im Frankfurter 
Casernhof verhaftet. 
F Am Samstag kam bei einer Studenten⸗ 
Mensur in der Hirschgasse zu Heidelberg der 
Fall vor, daß durch einen unrichtigen Hieb der eine 
Duellant seine Nase einbüßen mußte. Der— 
selbe ließ sich sofori in das akademische Kranken⸗ 
haus verbringen. 
fF Koln, 17. Januar. Ein arger Fehler ist 
dieses Jahr bei der Dombau⸗Lotterie mit unterge⸗ 
laufen, der vermuthlich deren völlige Ungültigkeit 
zur Folge haben duͤrfte, und spricht man in der 
That bereits von der Nothwendigkeit einer Wieder⸗ 
zolung des ganzen Verloosungsgeschäftes. Die 
bisherigen glücklichen Gewinner werden von dieser 
Nachricht weniger erbaut sein, als die Inhaber der 
Nieten. Die Sache aber verhält sich so: „Der 
Bewinn „Emailbild.“ Von F. Wüsten in Köln 
(1800 Mark) fiel gestern Vormitiag auf Nr. 
212,861 und Mittags der nämliche Gewinn auf 
Nr. 100,115. Es frägt sich nun, ob die beiden 
Loosinhaber sich friedlich einigen oder prozessiren. 
Jedenfalls kann jeder Inhaber eines Looses aus 
diesem Zwischenfalle den Grund entnehmen, um 
die ganze Lotterie durch eine Klage gegen die Dom⸗ 
bauprämien⸗Kollekte, resp. den Central⸗Dombau⸗ 
Verein für ungültig erklären zu lassen und minde⸗ 
stens ihnen für ihr Loos gezahlten Preis zurückzu⸗ 
fordern. 
F Das zehnte mittelrheinische Mu— 
sikfest wird am 6. und 7. Juli ds. Is. in 
Mainz stattfinden.