Full text: St. Ingberter Anzeiger

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qihm aufgerüttelt. So achtete er nicht auf des 
Nadchens verstörtes Wesen. Voller Hast verließ er 
as schwarze Haus, ahnungslos, daß Manuela von 
im Abschied genommen hatte für immer. 
F 
Kaum zwei Stunden später schied Roderich 
O'Donell, von seiner Schwester Luch begleitet, von 
osegg. 
ꝛ n letzten, wehmuthsvollen Blick sandten 
Beide nach dem Schlosse zurück, ehe dasselbe ihren 
Blicken entschwand. 
Von einem der oberen Fenster herab winkte ein 
zleiches, thranenüberströmtes Antlitz ihnen den 
letzten Gruß zu. dann zogen die Pferde an und 
er Wagen rollte durch den Park davon. 
Während der Fahrt nach dem schwarzen Hause 
heilte Roderich seiner Schwester mit, was er über 
lexander de Saint⸗Claire in Erfahrung gebracht 
zatte. 
So erreichten sie das schwarze Haus, doch kaum 
waren sie vor demselben angelangt, als Doktor 
Wilson ihnen schon entgegenstuͤrmte mit der hastigen 
Frage, ob er die Ehre habe, mit Kapitän O'Donell 
u reden? 
Der bin ich!“ versetzte der junge Mann be⸗ 
remdet. „Ich komme, um Mademoiselle Latour —“ 
„Mademoiselle Latour ist nicht mehr hier, — 
ie ist entflohen! Doch ein größeres Räthsel als 
das“, fuhr er erregt fort, „ist dieser Brief. Welchen 
Finfluß besitzen Sie auf das Fräulein, Kapitän, 
daß fie dem höchsten Triumphe ihres Lebens ent ⸗ 
agt um Ihretwillen, wie diese nach Ihrem Be— 
uche von heute Morgen geschriebenen Zeilen es 
aussprechen ? 
„Ich begreife kein Wort von Allem, was Sie 
agen; erklären Sie sich deutlicher!“ erwiederte 
Roderich. 
„Wer anders als Sie kann ihr zugeredet haben, 
hrem Erbrecht zu entsagen, und sie zur Flucht 
zu veranlassen ?“ 
„Mein Herr, Sie sprechen in Räthseln! Wenn 
Mademoiselle Latour entflohen ist, so beklage ich 
das von ganzem Herzen, aber ich habe gewiß am 
etzten Antheil daran. Ja, ich war heute Morgen 
zei dem Fräulein, um sie zu warnen, weil ich 
sur die Aermste empfand. Von ihrer 
Flucht weiß ich Nichts! Erklaren Sie sich deut⸗ 
acher, wenn ich Sie verstehen soll!“ 
Lesen Sie dieses Schreiben!“ versetzte der 
ange Arzt, zitternd vor Aufregung, indem er dem 
Kapitän Manuela's Brief hinreichte. 
Roderich las: 
„Doktor Wilson! 
Sie werden überrascht und bestürzt sein, 
wenn Ihnen diese Zeilen eröffnen, daß ich ge⸗ 
gangen bin, um nie zurückzukehren. Ich ent⸗ 
jage meiner Rache. Das Bekenniniß Johanna 
hermann's ist verbrannt. Weder mein Vater, 
joch sie, die meine Stelle einnimmt, sollen je 
zarum erfahren. Kapitän O'Donell hat sich 
mir als Freund erwiesen, seinetwegen entsage ich 
allen Racheplänen. Lassen Sie die Elende, welche 
alles Unglück über mich und meinen gütigen, 
todten Adoptivvater gebracht hat und die wir 
durch List hierherlockten, unbeanstandet ihres 
Weges ziehen. Sorgen Sie fuͤr Alexander de 
Saint⸗ Elaire, wie Sie es bisher thaten. Ich 
war Ihnen Jahre hindurch eine Last und Kum— 
mer; meine jetzige Flucht wird Ihnen schmerzlich 
sein, aber ich handle zum Besten für uns Alle! 
Leben Sie wohl, mein Freund! Bis zu meiner 
letzten Stunde werde ich für Sie beten und Sie 
segnen!“ 
Manuela.“ 
Roderich O'Donell las das Schreiben zweimal, 
aber nur die Hälfte davon verstand er. 
„Sie will ihrer Rache entsagen“, sprach Henry 
Wilson, als Roderich ihm das Blatt zurückgab, 
doch, bei Gott, jetzt ist es genug! Sechs Jahre 
ang habe ich geschwiegen. Das Maß ist endlich 
ibetvoll. Ob mit oder gegen ihren Willen, die 
Wahrheit soll und muß gesagt werden. Sie sollen 
rfahren, daß das Mädchen, welches sie mit Füßen 
getreten haben, Blut von ihrem Blute ist! Er soll 
es wissen, daß sie seine Tochter ist!“ 
„Wer? Wessen Tochter?“ forschte Roderich 
DDonell. 
Aber der Arzt, seine Worte nicht beachtend. 
wandte sich zum Gehen. 
„Wenn Sie den armen Blödsinnigen sehen 
pollen, so mag die alte Tony Sie zu ihm führen. 
Ich gehe, um den Vater Manuela's aufzusuchen !“ 
Mil diesen Worten entfernte er sich so hastig, 
daß Roderich keine Frage mehr möglich war. 
Die alte Tony, die hinzutrat und sich bereii 
erklärte, den jungen Kapitän und seine Schwester 
n dem Kranken zu führen, entriß ihn seinen Ge⸗ 
danken. 
Auf den Arm des Bruders gestützt, folgte Lucy, 
ioch heftig ergriffen von dem eben Gehörten, zit⸗ 
ernd der voraufgehenden Alten. Zögernd über⸗ 
chritt sie die Schwelle des Gemachs, in welches 
zie Greisin sie führte und sank hier vor dem Lager 
des Mannes, der einst ihrem Herzen so theuer ge⸗ 
vesen war, lautlos auf die Knie nieder. 
„Alexander, Alexander!“ flüsterie sie. 
Er zuckte merklich zusammen, riß die Augen 
veit auf und starrte sie groß an, doch ohne, daß 
auch nur ein Funken des Erlennens in seinem 
Blick wach geworden wäre. 
Wildes Grausen erweckte der starre Ausdruck 
desselben in ihrer Seele und mit einem leisen Schrei